„Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir“

Von der Schlaflosigkeit der Dichter

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker

„Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir“
 
Von der Schlaflosigkeit der Dichter
 
Von Heinz Rölleke
 
Schlafstörungen und totale Schlaflosigkeit sind Zivilisationskrankheiten, die seit dem 19. Jahrhundert auf dem Vormarsch sind. Von der Medizinern werden sie inzwischen als Agrypnie oder Insomnis Hyposomnie ernst genommen und zu behandeln versucht; dabei bieten auch die Psychiater ihre Hilfe an.
 
Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) und Eduard Mörike (1804-1875), zwei der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker haben persönlich unter der Krankheit gelitten und ihre nächtlichen Erlebnisse und Empfindungen in berühmt gewordenen Dichtungen zum Thema gemacht.
 
Um 1844 verfaßte die seinerzeit etwa 45-jährige Droste ihr 14-strophiges Gedicht „Durchwachte Nacht“, das in kunstvollem Wechsel von jeweils 6- und 8-Zeilern sind Erlebnisse während einer schlaflosen, Nacht zwischen Wachträumen und Realitätseindrücken imaginiert. Der Leser wird ins fortlaufende Geschehen und in die bedrückenden Gefühlserlebnisse förmlich hineingezogen. Von zehn Uhr abends bis vier Uhr morgens kann man die psychischen Belastungen, die stets wieder zerrinnenden Sinneswahrnehmungen und insgesamt das Leiden an der nicht beizukommenden, quälenden Schlaflosigkeit hautnah miterleben. Mit dem Lyrischen Ich hört und zählt man immer bedrückter die sieben nächtlichen Glockenschläge, mit denen die Langsamkeit des nächtlichen Vorrückens der Zeit unerbittlich angezeigt wird. Immerhin ist das Gedicht durch das Motiv der Sonne gerahmt, von ihrem „glüh und schwer“ versinkenden abendlichen Untergang bist zu ihrem unaufhaltsamen, strahlenden Wiederaufgang am frühen Morgen:
 
            Da flammt's im Osten auf, - o Morgenglut!  
            Sie steigt, sie steigt, und mit dem ersten Strahle
            Strömt Wald und Heide vor Gesangesflut,
            Das Leben quillt aus schäumendem Pokale.
 
Zwischen diesen Polen des schwermütigen Untergangs und des glorreichen Wiederaufstiegs ist das Lyrische Ich allerdings unentgehbar unheimlichen Angstzuständen und bedrückenden, verzerrten Sinneswahrnehmungen hilflos ausgesetzt. Letztlich verfestigt sich im Leser der Eindruck des „wunderlichen Schlummerwachens“ und „der zarten Nerven Fluch“ der den Schrecken der Nacht unentgehbar ausgesetzten Person. Es scheint bedeutsam, daß von den 98 Versen des Gedichts nicht einer die sonst im Werk dieser fromm-glaubenden Dichterin immer wieder die formulierte Frage nach Gott und seiner Hilfe stellt, die Rede ist, wie dies doch ein ihr bekannter Psalm (63.7-9) so gültig beantwortet hat:
 
            Wenn ich mich zu Bette lege, ich denke an dich;      
            wenn ich erwach, so rede ich von dir.
            Denn du bist mein Helfer,
            und unter dem Schatten deiner Flügel frohlocke ich.           
            Meine Seele hanget dir an,
            denn deine rechte Hand erhält mich.
 
Im Anschluß gerade an diese Psalmverse dichtete Conrad Ferdinand Meyer:
 
            Die Rechte streckt' ich schmerzlich oft
                        In Harmesnächten
            Und fühlt gedrückt sie unverhofft
                        Von einer Rechten -
            Was Gott ist, wird in Ewigkeit
                        Kein Mensch ergründen,
            Doch will er treu sich allezeit
                        Mit uns verbinden.
 
Noch eindeutiger war solches Vertrauen auf Gott in schlaflosen Nächten in einer Vorfassung dieses Achtzeilers unter dem Titel „Nachtwache“ formuliert:
 
            Wenn dich der Harm nicht schlummern läßt,
            Streck' aus die Hand du in die Nächte
            Und sei gewiß, du fassest eine Rechte
            […]
            Dann wird es Ruh
            Und ungekränkt entschlummerst du.
 
Sechzehn Jahre vor der katholischen Dichterin aus Westfalen hatte der evangelische Theologe Eduard Mörike aus Schwaben ebenfalls das Problem 'nächtliche Schlaflosigkeit' in seinem Gedicht „In der Frühe“ schon als 25-jähriger thematisiert. Auch diese zehn Zeilen lassen in ihrem durchgehenden Präsens den Leser unmittelbar an den Eindrücken und Gefühlen des Lyrischen Ich Anteil nehmen:
 
            Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir,
            Dort gehet schon der Tag herfür
            An meinem Kammerfenster.
            Es wühlet mein verstörter Sinn
            Noch zwischen Zweifeln her und hin
            Und schaffet Nachtgespenster.
            - Ängste, quäle
            Dich nicht länger, meine Seele!
            Freu' dich! Schon sind da und dorten
            Morgenglocken wach geworden.
 
Das Gedicht bietet das seltsame Reimschema aa bccb dd ee . Dabei wechseln die ersten sechs Verse zwischen drei- und vierhebigen Betonungen ab, ehe plötzlich mit dem irritierenden, fast ein wenig befremdlichen Zweihebern („Ängste, quäle“) zugleich ein signifikanter Wechsel vom jambischen zum trochäischen Versmaß statthat.
 
Mörike war nach seinem mit einem Stipendium geförderten Theologiestudium im berühmten Tübinger Stift als Vikar in Oberbollingen tätig. Er hatte nicht den Mut wie die älteren Stiftler Hegel, Hölderlin oder Schelling der Parole „Niemals Pfarrer!“ zu folgen und die durch das Stipendium vorgezeichnete und vom Landesherrn erwartete Bahn eines Kirchendienstes („Vikariatsknechtschaft“ nannte er ihn) auszuschlagen; dazu fehlte es ihm an Selbstvertrauen. Die nächtlichen „Zweifel“, von denen im Gedicht die Rede ist, bedrückten ihn nicht nur deswegen, sondern ganz allgemein.
 
Die Zweifel und das rastlose Hin und Her der Gedanken und nächtlichen Visionen sind im Gedichte geradezu hörbar. Die zuweilen alliterierend auftretenden und gerade in der Lyrik meist als Kakophonien empfundenen Zischlaute „sch“, „st und „sp“ beherrschen zunächst das Feld:„Sch-laf“, „sch-on“, „sch-affet“, „zw-ischen Zw-eifeln“ und auch „ver-stört“ oder „ge-spenster“ verstärken den scheinbar unentgehbaren Eindruck eines verstörten oder gar verzweifelten Befindens. Mit dem Vers „Ängste, quäle“ hebt die Peripetie des Gedichtes an; der plötzliche Wechsel vom jambischen zum trochäischen Versmaß läßt erspüren, daß seit dem Selbstanruf des Lyrischen Ich die Verseingänge fest und sicher betont werden. Mit der Wahrnehmung der hoffnungsvollen Zeichen der morgendlichen Realität weichen die „Nachtgespenster“ den - nach dem Volksglauben die Dämonen vertreibenden - „Morgenglocken“. Am Ende wechseln zugleich die pejorativen und kakophonisch hörbar gewordenen Empfindungen zu einem voll und harmonisch tötenden Vokalismus. Die anfangs als negativ empfundene Zeitvorstellung „schon“ ist zuletzt im Verband mit den hoffnungsvollen anderen Worten hörbar anders akzentuiert. Die ungewöhnliche Vokalhäufung in den beiden das Gedicht beschließenden Versen ist kein Zufall o – a – o – o – o – a – o beherrschen das Feld und verkünden „in der Frühe“ das Ende der nächtlichen Schrecken. Es sind die „Morgenglocken“, die das Lyrische Ich bereits von Beginn an im Halbschlaf sozusagen verschwommen wahrgenommen hatte und die es nun hellwach als die ersehnte Erlösung aus dem Chaos identifiziert.
 
Hugo Wolf hat unter vielen auch diesen Mörike-Text als Lied mit Klavierbegleitung (der Eingangsstimmung mit d-moll entsprechend) komponiert, und seinem ausgezeichneten Interpretationsvermögen darf man sicher folgen, denn er macht in der Begleitung dieselben Töne schon zu Beginn vereinzelt hörbar, die am Ende triumphieren. Der große Lied-Sänger Fischer-Dieskau schreibt dazu:
 
     Glockenläuten nicht als poetische Zutat des Komponisten, sondern      
     als formale Möglichkeit […]. Die Glocken läuten schon zu Anfang,
     aber versteckt und dumpf [die Eingangsworte mit den Stammvokalen  
     „a“ und „o“ grundierend], bis das erlösende D-Dur erreicht ist.
 
Die unklare Wahrnehmung der Realität des morgendlichen Geläutes war zunächst noch in verstörende Träume verwoben und ist nun ein bewußt erkannter Trost und Freudenspender.
 
Das kleine Gedicht zeigt aber nicht nur höchstes poetisches Vermögen, sondern es strahlt auch eine direkte Geistliche Botschaft aus. Die merkwürdigen Vers- und Reimstrukturen entsprechen aufs Haar einem altehrwürdigen und seinerzeit noch jedem Gläubigen vertrauten Kirchenlied. Wie fünfzig Jahre zuvor schon Matthias Claudius verfahren war, als er sein Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“ durch den Untertitel „nach der Melodie 'Nun ruhen alle Wälder'“ direkt auf dieses berühmte Lied Paul Gerhardts bezogen hatte, das der Leser sozusagen als Subtext und in der bekannten Melodie im Ohr haben soll, so appelliert Mörike hier subtil an die Kenntnisse seiner Hörer, was ein altes und weit bekanntes Geistliches Morgenlied betrifft: „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ (von Philipp Nicolai; Erstdruck 1599). Ein genauer Vergleich erweist die minutiösen Übereinstimmungen der so extrem wechselnden Versmaße wie der Reimführung. Den Geistliche Trost, den das Lyrische Ich durch das Läuten der Morgenglocken empfängt, kann der Subtext Nicolais noch verstärken. Vor allem Mörikes „Ängste, quäle“ entspricht dem barocken „lieblich, freundlich“, das die Gläubigen und ihr Vikar ganz gewiss im Ohr hatten.
 
Nicolai hatte sein Gedicht 1597 in einem schlimmen Pestjahr geschrieben und es glaubensstark für seine Anthologie „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ bestimmt. Von solcher Zuversicht und solchem Vertrauen auf himmlischen Beistand gegen die Schrecken der Nacht waren die Droste und Mörike weit entfernt. Beiden Dichtern war der jahrhundertelang gepflegte Abendsegen bekannt, mit dem Gott angerufen wurde, er möge eine „noctem quietam“ schenken, dann habe man nicht die „Schrecken der Nacht“ zu fürchten („non timebis a terrore nocturno“). Bei Gott wird in beiden Gedichten weder Zuflucht gesucht noch gefunden – diese findet man erst beim Klang der Morgenglocken und im Aufdämmern des Morgens.
 
Auch die geradezu materialisierte Vorstellung von der nächtlichen Wacht der Engel um das Bett der Schlafenden oder der Schlafsuchenden bietet offenbar keinen Trost mehr. Heine hatte das immerhin in Erwägung gezogen, wenn auch in einer blasphemischen Parodie:
 
       Siehe, um das Bett Salomos her stehen sechzig Starke aus den            
       Starken in Israel.
       Sie halten alle Schwerter und sind geschickt zu streiten.
       Ein jeglicher hat sein Schwert an seiner Hüfte um des Schreckens      
       willen in der Nacht
       (Hohes Lied 3.7-8).
 
Heinrich Heine übernimmt das Bild in seinen „Romanzero“, wandelt aber im modernen Sinn die handfeste Bedrohung des Königs ins Leid einer von Alpträumen gestörten Nachruhe:
 
       An Salomos Lager Wache halten
       Die schwertgegürteten Engelsgestalten,
       6000 zur Rechten 6000 zur Linken.
       Sie schützen den König vor träumendem Leide.
 
In den hier angeführten Beispielen aus der neueren Lyrik wird nur noch in dem kleinen Gedicht Conrad Ferdinand Meyers etwas vom Gottvertrauen in früherer Zeiten ahnbar: Man fühlt einen stärkenden Händedruck, in dem man Gottes Hilfe ahnt. Heine verspottet die jüdischen und christlichen Vorstellungen von einer schützenden und helfenden Himmelsmacht, während Mörike und die Droste, mehr oder weniger säkularisiert, den modernen Schlaf suchenden Menschen auf die Wahrnehmung eines neuen Morgens vertrösten.
 
 
            © Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021