Die doppelte Doppelhelix

Ein Exkurs

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Exkurs: Die doppelte Doppelhelix
 
Von Ernst Peter Fischer

Der Einschub resultiert aus der Lektüre eines Romans des Holländers Harry Mulisch, der beim ersten Lesen alles bietet, was ein naturwissenschaftlich schlagendes Herz erfreuen kann. Das Buch heißt „Die Prozedur“, und im Mittelpunkt steht ein Mann, „dem es gelingt, wie Gott zu sein und toter Materie Leben einzuhauchen“, wie der Klappentext formuliert, wobei das mit dem Gott hintergründiger gemeint ist, als man denkt. Der Roman handelt nämlich von dem besonderen Drama im Leben des Wissenschaftlers, dem es gelingt, aus toter Materie ein sich reproduzierendes Wesen zu machen, einen Eobionten, wie es heißt. Es geht um einen Biochemiker namens Victor Werker, der zwar das Leben (allgemein verstanden) erschaffen kann, der aber das Sterben seines eigenen Kindes weder verhindern noch ertragen kann und dabei das Leben (speziell verstanden) verspielt.
       „Die Prozedur“ bietet Spannung auf vielen Ebenen, wobei es für den naturwissenschaftlich orientierten Leser das zusätzliche Vergnügen gibt, daß der Autor wissenschaftlich gebildet ist und von der modernen Genetik und ihren Bemühungen um den Ursprung des Lebens erzählt. Doch so schön es ist, daß Mulisch sein eigenes Vergnügen am wissenschaftlichen Denken und Fortschreiten durchscheinen läßt und die dazugehörenden Tätigkeiten literarisch adelt, so deutlich macht er leider auch, daß ihm der Prozess der Wissenschaft an einer entscheidenden Stelle fremd und unzugänglich zu bleiben scheint. Dieses tiefe Unverständnis teilt der Dichter trotz aller Sympathie für die Forschung mit vielen Menschen, wie im Folgenden beschrieben wird, wenn versucht werden soll, die Naturwissenschaften von einem falschen Geruch zu befreien, der ihnen immer noch anhaftet und mit dem sie so zweitrangig bleiben, wie sie es in der kulturellen Bewertung bislang sind.
       Der Held von Mulischs Roman, der Chemiker Werker, erzählt besonders gerne von der Entdeckung der Doppelhelix, die im Jahre 1953 gelungen ist. Der zum Jahrgang 1952 gehörende Werker spricht ausdrücklich von seiner „philosophischen Geburt“, die sich in diesem „entscheidenden Jahr der Mikrobiologie“ vollzogen hat, als die Doppelhelix, „die Essenz allen Lebens“ in das Bewußtsein der Wissenschaft trat. Die Doppelhelix gibt die Struktur des Erbmaterials, der DNA wieder: „Dort, auf dieser allerniedrigsten Ebene“ der genetischen Moleküle, so schreibt Werker, „gibt es nicht nur keinen Unterschied mehr zwischen den Menschen untereinander, Juden und Antisemiten zum Beispiel, sondern auch nicht zwischen Menschen und Mäusen und Geranien und Aidsviren.“
An dieser Stelle könnte man zwar ein wenig nörgeln, aber was immer ungenau an diesem Satz ist, spielt für den Roman keine Rolle. Es kommt bei der Entdeckung der DNA Doppelhelix auch auf etwas anderes an ist. Die Geschichte ihrer Findung ist von James Watson in einem Buch beschrieben worden, das wie die Struktur „Die Doppelhelix“ heisst und 1968 erschienen ist. Dieser Zeitpunkt markiert den Augenblick, „als die Revolution in Paris ihren Höhepunkt erreicht hat“, wie Werker schreibt und wie Watson schmerzlich zu spüren bekommen hat, wie im Text geschildert. Der Chemiker, der sich bis dahin hatte treiben lassen, wußte nach der Lektüre der „Doppelhelix“ auf einmal genau, was er wollte, nämlich die Atmosphäre von Forschung auf höchstem Niveau erleben, „die Irrwege, die Überraschungen, die Spannung, die Euphorie“. Mit anderen Worten, Wissenschaft ist nach der doppelten Doppelhelix aus vielen Gründen faszinierend geworden, und sowohl die humanen als auch die sozialen Aspekte sollten nicht unterschätzt werden.
Nach dem Schlüsseljahr 1968 ist Watson nicht nur der Wissenschaftler, der die Doppelhelix entdeckt hat, sondern auch der Autor, der die „Doppelhelix“ geschrieben hat. Als Werker einmal überlegt, ob Watson dafür nicht „auch den Nobelpreis für Literatur verdient hätte“, bekommt der Autor Angst vor seinem eigenen Hochachtung, und er ringt sich stattdessen zu der katastrophalen Fehleinschätzung durch, auf die es im Folgenden ankommt: „Wie dem auch sei“, so läßt Mulisch Werker schreiben, „wenn Watson und Crick die Struktur der DNA nicht entschlüsselt hätten, dann hätte es innerhalb der nächsten zwei, drei Jahre jemand anders getan - ... aber der hätte nicht anschliessend dieses Buch geschrieben. Für meine [eigenen Forschungen] gilt das gleiche; aber wenn Kafka nicht den Prozeß geschrieben hätte, dann wäre dieser Roman bis in alle Ewigkeit ungeschrieben geblieben. Kurzum, es ziemt uns, bescheiden zu sein.“
       Ich befürchte, daß selbst viele naturwissenschaftlich tätige Leser über diese Bemerkung hinweggehen, weil sie den Zusammenhang zwischen Kunst und Wissenschaft genau so sehen – und damit die Qualität ihrer eigenen Arbeit abwerten, ob sie es merken oder nicht. Schliesslich sagen oder denken sie, was Doktor A heute nicht erreicht hat, wird morgen Doktor B oder spätestens übermorgen Doktor C erreichen. Nur was Dichter D heute geschrieben hat, das kann niemand anders schreiben, das kann nur er so machen. Hinter diesem Vorurteil steckt die offenbar unverrückbare Ansicht, daß es zwar besondere („geniale“) Menschen sind, die Kunst machen, daß die Wissenschaft aber durch austauschbare Wesen vorankommt. Es sind nicht die Menschen, die Wissenschaft machen. Es ist vielmehr die Wissenschaft, die Menschen (berühmt) macht – und Watson liefert genau das geeignete Beispiel, wie es scheint.
Das Seltsame an der zitierten Stelle bei Mulisch besteht darin, daß er so denkt und schreibt, obwohl er die literarische Arbeit von Watson – seine zweite Doppelhelix – sehr hoch einschätzt. Der Vergleich zwischen der Publikation von 1953, in der die Struktur des Erbmaterials zum ersten Mal beschrieben worden ist, und Werken der Kunst ist nämlich ursprünglich verwendet worden, um Watsons autobiographischen Text von 1968 abzuwerten. Dem Biochemiker Erwin Chargaff, der selbst eine wichtige Rolle auf dem Weg zur Doppelhelix gespielt hat und der auch in Watsons Geschichte auftaucht, gefiel die literarische Doppelhelix überhaupt nicht, und er verwarf sie noch im Erscheinungsjahr aus grundsätzlichen Überlegungen. Chargaff verbreitete in einer Rezension das beliebte Gerücht, daß Naturwissenschaftler uninteressante Leute sind, die im Vergleich zu Künstlern ein langweiliges und ereignisarmes Leben führen. Er erklärte auch, warum Künstler biographisch so sehr ergiebiger sind. Dies liegt – nach Ansicht von Chargaff – darin, daß es einen zentralen Unterschied gibt zwischen den seiner Ansicht nach stets einmaligen Schöpfungen von Künstlern einerseits und den oft banalen Hervorbringungen von Naturwissenschaftlern andererseits. Und an dieser Stelle taucht in aller Deutlichkeit das Argument auf, dessen Nachhall drei Jahrzehnte später  bei Mulisch zu lesen ist. Timon von Athen –  so Chargaff – wäre nie geschrieben, Les Desmoiselles d´Avignon wäre nie gemalt worden, wenn Shakespeare und Picasso nicht existiert hätten. Aber von welchen naturwissenschaftlichen Errungenschaften kann Gleiches behauptet werden? Ist es nicht so, daß es Impfstoffe gegen die Tollwut auch ohne Pasteur und ein Atommodel auch ohne Bohr gegeben hätte?
Wer sich auf Partys oder bei anderen Gelegenheiten umhört und Chargaffs Ansicht zum Besten gibt, wird finden, daß ihm alle (oder: fast alle) zustimmen – sogar Harry Mulisch, wie oben gesehen worden ist, wobei er diese Worte vorsichtshalber einem Naturwissenschaftler in den Mund legt. Er verdeutlicht auf diese Weise, was leider der Fall ist, das nämlich viele Forscher an die Einmaligkeit künstlerischer Schöpfungen und die Zufälligkeit unabänderlicher wissenschaftlicher Entdeckungen glauben. Immerhin steigert Mulisch die Höhe des Vergleichs, denn während Chargaff das schwächste Stück Shakespeares heranzieht, um der Arbeit von Watson und Crick auch den kleinsten Anspruch auf Qualität zu nehmen, wählt der Holländer immerhin ein Hauptwerk von Kafka, um die Präsentation der Doppelhelix in den Blick zu bekommen.
Verwirrend bleibt, daß weder Mulisch noch andere Literaten selbst drei Jahrzehnte nach Chargaff nicht gemerkt haben, daß der angestellte Vergleich nicht nur falsch, sondern sogar sinnlos ist. Schliesslich wird da etwas verglichen, was nicht einmal im Ansatz zu vergleichen ist, nämlich ein Roman oder ein Theaterstück auf der einen und das Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung auf der anderen Seite. Der Prozeß ist ein Roman und Timon von Athen ist ein Drama, und die Doppelhelix ist eine Struktur. Auf der einen Seite stehen Werke und auf der anderen ein Inhalt, und wenn beides verglichen wird, kann nur Unsinn herauskommen. Genau so geschieht es aber, und zwar seit Jahrzehnten, und die Frage muß gestellt werden, warum sich dieses dumme Vorurteil so hartnäckig hält, und zwar auch unter intellektuell anspruchsvollen Poeten wie Mulisch, die dem wissenschaftlichen Treiben doch sonst mit Vergnügen zuschauen.
Ich denke, daß hier die Psyche zur Erklärung herangezogen werden muß. Mulisch läßt seinen Helden Werker am Ende des Zitats etwas von Bescheidenheit murmeln, und das heisst doch wohl, daß sich Wissenschaftler nicht einbilden sollen, die kreative Höhe von Dichtern und anderen Künstlern zu erreichen. Offenbar wehrt sich unser kollektives Unbewußtes gegen das Eingeständnis, daß Wissenschaft schöpferisch und kreativ sein kann und ist. Irgendwie suchen wir gerne falschen Trost bei dem Gedanken, daß Wissenschaften nur entdecken, was schon da ist, ohne etwas zu erschaffen, während die Künste erschaffen, was vorher nicht da war, ohne etwas zu entdecken.
Die konkrete Frage in dem angesprochenen Beispiel lautet, War die Doppelhelix immer schon so, wie sie heute ist? Und war sie schon da, bevor Watson und Crick sie 1953 beschrieben haben? Wer hier rasch „Ja“  antworten will, sollte wissen, daß es weitere Fragen gibt. Angenommen, jemand sagt, die Doppelhelix gab es schon vor Watson und Crick, dann würde man gerne wissen, wo sie denn damals war? Die Antwort kann nicht „in der Natur“ oder „in einer Zelle“ heissen, denn die Doppelhelix ist kein konkret gegebenes DNA-Molekül. Sie ist eine Abstraktion, als Symbol gefasst, dessen Auftauchen den langwierigen und umfassenden Bemühungen vieler Biowissenschaftler, Physiker und Kristallographen zu verdanken ist. In der natürlichen Welt – in den Zellen der lebendigen Körper – gibt es nicht so etwas wie ein DNA-Molekül, und es gibt erst recht nicht die Doppelhelix, die aus der Literatur bekannt ist und ihren ästhetischen Reiz als Symbol ausübt. Es ist einfach falsch zu sagen, die Struktur der DNA war, was sie war, bevor Watson und Crick sie vorlegten. Es ist vielmehr richtig zu sagen, daß die Doppelhelix sowohl Schöpfung als auch Entdeckung ist, und der Bereich ihres Daseins ist nicht die Natur, sondern die Gedankenwelt und Literatur der Naturwissenschaft. Mit anderen Worten, der Unterschied zwischen Entdeckung und Schöpfung hat in der Naturwissenschaft wenig philosophische Bedeutung. Naturwissenschaftler und Dichter repräsentieren die gleiche Höhe der Kultur – alles andere wäre falsche Bescheidenheit.
 
 
© Ernst Peter Fischer