Propaganda für eine Schimäre

Willy Ronis – „Zuerst das Leben! Willy Ronis in der DDR. 1960-67“

von Frank Becker

Zuerst das Leben!
 
Willy Ronis in der DDR - 1960-67
 
 „Ich lege Wert darauf, in meinen Fotografien den Charakter
der Menschen festzuhalten, ihre Gestik und Haltung zu
erfassen, im Interesse des Lebens.“
Willy Ronis
 
Der Zweite Weltkrieg war 15 Jahre vorbei, als Willy Ronis (1910-2009) im Jahr 1960 zum ersten Mal in die DDR reiste, also ein Jahr, bevor Walter Ulbricht seine Staatsbürger durch die berüchtigte Mauer kollektiv einsperrte. Der sozialistisch geprägte französische Fotograf, der zu diesem Zeitpunkt bereits internationale Anerkennung gefunden hatte, war damals vom Ost-Berliner Fotografiekongress Interpress-foto eingeladen worden. Daß er sieben Jahre später, sechs Jahre nach dem Bau von Mauer, Stacheldrahtverhauen, Todesstreifen und tödlichen Schüssen auf Freiheitssuchende im Auftrag des französisch-(ost)deutschen Freundschaftsverband „EFA“ (Association Échanges franco-allemands) erneut und offenbar mit Scheuklappen ausgestattet die DDR für eine Fotoreise besuchte, spricht für seine limitierte Weltsicht und die Ausrichtung der kommunistisch gesteuerten EFA, die damit die Anerkennung der DDR durch Frankreich fördern wollte. Die sah nämlich im demokratischen Westdeutschland, das durch den Schulterschluß zwischen Charles de Gaulle und Konrad Adenauer 1958 und den Elysée-Vertrag von 1963 längst das Freundschaftsband mit Frankreich geknüpft hatte, immer noch eine Gefahr für den Frieden und widmete sich ohne wenn und aber nur den Beziehungen und dem Austausch zwischen Frankreich und der von ihr idealisierten DDR. Es liegt auf der Hand, daß von Willy Ronis keine sachliche, gar kritische Fotoreportage aus dem Staat, der den real existierenden Sozialismus für sich reklamierte, zu erwarten war - Propaganda für eine Schimäre.
 

Kellnerin im Hotel International © Willy Ronis 1967

Jedoch sind die Fotos, mit denen Ronis damals die DDR aus seiner Sicht dokumentierte und die ein fast peinlich idealisiertes Bild des Unrechtsstaates transportieren, dennoch Dokumente von unschätzbarem Wert. Schließlich lebten hinter Mauer und Minengürtel 17 Millionen Deutsche, die sich ihren Alltag, ihr friedliches Leben nach den Möglichkeiten einrichteten. Man sieht z.B. auf den Bildern wenige, fast keine Uniformen, wobei doch jeder frühere DDR-Bürger und jeder Besucher aus dem Westen weiß, daß Uniformen das Straßenbild prägten. Ronis hatte seinen Fokus auf die Menschen in Beruf und Freizeit, auf das Leben in den Straßen, auf unbeschwerte Kinder, zufriedene Werktätige, Sport und Kultur gerichtet. Einige beeindruckende Einzelporträts von Prominenten wie Christa Wolf, Werner Klemke, Bruno Apitz stehen solchen von Unbekannten wie einer Kellnerin, einem Porzellanmaler, einem Laubenpieper oder der Facharbeiterin eines Fotoapparatebaus gegenüber. Idyllische Landschaften wechseln mit Industrieanlagen, Bilder des zögernden Aufbaus wechseln mit anderen erreichter Errungenschaften. Ronis war in Leipzig, Dresden, am Königstein bei Pirna und Berlin, auf Rügen und im Spreewald – und er bekam Einblicke, die andere Gäste nicht bekamen. Zwei Bilder, die sicher nicht ohne Grund im Buch gegenüber stehen, zeigen die große Baukunst deutscher Architektur im Vergleich und zeitlichen Spagat von 400 Jahren: Die gewaltige Festung Königstein und die Arbeit am Fernsehturm in Berlin Mitte (1967). Besonders interessant: an letzterem, heute das Wahrzeichen des Zentrums am Alexanderplatz, steht nicht ein einziger Schaulustiger, die wenigen Passanten nehmen keine Notiz.


Baustelle des Berliner Fernsehturms am Alexenderplatz © Willy Ronis 1967

Was man eben nicht sieht, sind Grenz-, Kontroll- und Überwachungsanlagen, sind Volkspolizei, Nationale Volksarmee, Grenztruppen, bewaffnete Betriebskampfgruppen oder Pionieraufmärsche, sondern spielende Kinder, biedere Straßenszenen, kulturinteressierte Bürger, fleißige Studenten, Ernteeinsatz, üppiges Warenangebot und relative Idylle.Und daß all die fröhlichen, ernsthaften, fleißigen Menschen, die er abgelichtet hat, niemals z.B. seine Heimat Frankreich, Italien oder ganz zu schweigen von West-Deutschland würden sehen können, hat sich dem vom scheinbaren Sozialismus verblendeten Fotografen offenbar nicht erschlossen.
 

DDR Kinderheim 1967 © Willy Ronis

Nach seiner Rückkehr Ende 1967 wurde seine Arbeit zwar in 80 Kommunen Frankreichs ausgestellt, doch blieb es dabei auf solche mit im wesentlichen kommunistischer / sozialistischer Prägung beschränkt. Anschließend gerieten die eindeutig propagandistischen Bilder bis heute in Vergessenheit. Anläßlich der Ausstellung „Willy Ronis en RDA – La vie avant tout“ in Versailles wurden sie (mit etwas dürftigen Bildangaben) dem Vergessen entrissen.
 
Willy Ronis – „Zuerst das Leben! Willy Ronis in der DDR - 1960-67“
Katalogbuch anläßlich der Ausstellung „Willy Ronis en RDA, La vie avant tout“ , Espace Richaud,Versailles, 2021 und anschließender Stationen in Deutschland
© 2021 Wasmuth & Zohlen Verlag, 224 Seiten, gebunden, 21 x 25 cm, 160 Abbildungen, davon 15 in Farbe, Textbeiträge (deutsch, französisch) von Roman Guinée, Nathalie Neumann, Gabrielle de la Selle - ISBN: 978 3 8030 3413 7
39,- €
 
Weitere Informationen: www.wasmuth-verlag.de