„Davon glaube ich kein Wort!“

Jim Watson in der Anekdote

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
„Davon glaube ich kein Wort!“
 
Jim Watson in der Anekdote

Von Ernst Peter Fischer

Die Schönheit der Schraube
 
Nachdem sich die Physiker an der Schönheit von Einsteins Gleichungen erfreut hatten, konnten die Biologen schon kurz vor seinem Tod und recht mit vollem Schwung danach damit beginnen, sich an der Schönheit der Schraube zu berauschen, die im Zentrum des Lebens einer Zelle zu stehen schien. Es war sogar eine Doppelschraube, die 1953 das Licht der wissenschaftlichen Welt erblickt hatte, und zwar im britischen Cambridge und in dessen Cavendish Laboratorium. Gemeint ist die Doppelhelix, mit der das Aussehen eines Makromoleküls mit Namen DNA beschrieben werden konnte, das den Stoff ausmacht, aus dem die Gene bestehen. Sich ausgedacht und vorgeschlagen haben die elegante Doppelhelix, die schöne Schraube aus einer Nukleinsäure namens DNA, ein junger Amerikaner namens Jim Watson und ein etwas älterer Brite namens Francis Crick, die beide 1962 dafür mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurden. So feierlich es bei der Feier in Stockholm zuging, so überschwänglich hat das erfolgreiche Paar in Cambridge unmittelbar auf den Moment reagiert, in dem sie die elegante Struktur der Gene vor Augen sahen. Sie sind mit wedelnden Armen und in rasendem Tempo aus dem Laboratorium und in die an der Straßenecke liegende Kneipe namens „Eagle“ gerannt und haben jedem, der es hören wollte, verkündet, „Wir haben das Geheimnis des Lebens gelüftet.“
       Der Jubel ist gut zu verstehen, wenn auch heute klar ist, daß die Doppelhelix mehr das Geheimnis des Lebens selbst ist, das Watson und Crick meinten aufgehoben zu haben. Der Jubel der beiden ist zum einen deshalb verständlich, weil auch andere Wissenschaftler sich in einem engen Rennen um die Struktur der DNA bemüht hatten und viele andere Teilnehmer nun mit leeren Händen dastanden. Und er ist zum zweiten verständlich, weil die Arbeiten im England der Nachkriegsjahre ausgeführt worden sind und die hohe Politik für das viele Geld, das sie in die Forschung investiert hatte, endlich Ergebnisse aus einheimischen Laboratorien mit britischer Beteiligung sehen wollte. Der haushohe Favorit beim Rennen um die Struktur der DNA, ein amerikanischer Chemiker namens Linus Pauling, saß in den USA, und das Duo aus Watson und Crick schaute jeden Morgen zitternd in der Post nach, ob Pauling ihnen in einem Schreiben mitteilte, wie er das Problem gelöst und ihnen damit den Preis weggeschnappt habe. Eines Tages im Jahre 1952 kam tatsächlich eine Arbeit von Pauling, in der er einen Vorschlag für die Struktur der DNA unterbreitete, und vor allem Watson krampfte sich bei dessen Anblick der Magen zusammen, und er hatte das Gefühl, in den Boden und in die Bedeutungslosigkeit zu versinken. Doch bei der sorgfältigen Lektüre von Paulings Version einer genetischen Schraube konnte sich Watson allmählich wieder beruhigen, denn der Blick auf das vorgeschlagene Modell zeigte, daß an ihm etwas nicht stimmte und es sich bei der gezeigten Struktur chemisch nicht um eine Säure handeln konnte. Eine (schwache organische) Säure, das mußte das genetische Material aber auf jeden Fall sein, wie seit dem 19. Jahrhundert bekannt war, als man im Zellkern die Kernsäuren entdeckt hatte, um die es jetzt ging, und wie man schon länger in den Lehrbüchern nachlesen konnte.        
       Watson überlegte fieberhaft: Es könnte natürlich sein, so sein Gedanke, daß der große Pauling eine grundlegend neue Vorstellung entwickelt habe, mit der sich erklären ließ, was einen chemischen Stoff zu einer Säure macht, aber dann hätte er nicht eine, sondern zwei Arbeiten geschrieben und zur Publikation eingereicht. In dem ersten Paper hätte Pauling, der in seinen Vorlesungen gerne eine Show abzog, wenn sich die Gelegenheit bot, souverän eine neue chemische Theorie der Säure vorgestellt, mit der er dann der zweiten Arbeit die Struktur der DNA geklärt und als Anwendungsbeispiel vorgeführt hätte. Da dies nicht der Fall war und er alles in einen Text gepackt hatte, so überlegte Watson, mußte Pauling ein Fehler unterlaufen sein, was zwar schwer zu glauben war, was aber erst den Tag und dann die ganze Geschichte der Doppelhelix für Watson und Crick rettete.
       Man muß sich den damals 25jährigen Watson übrigens so strubbelig wie Einstein vorstellen, wobei es im Nachkriegsengland der 1950er Jahre ungewöhnlich war, so lange und wüste Haare zu tragen. Als Watson gefragt wurde, warum er so herumliefe, hat er geantwortet, damit man ihn nicht mit einem amerikanischen GI verwechselt. Ansonsten kleidete sich Watson auch unkonventionell, was sich etwa darin zeigte, daß die Schnürsenkel in seinen Schuhen die meiste Zeit offen umher baumelten und selten ihren Zweck erfüllten. Als Watson im Sommer 1953 eingeladen war, um in einem Forschungsinstitut in New York die erste öffentliche Präsentation der von allen Kollegen längst bewunderten Doppelhelix zu geben, machte er auf den dabei anwesenden französischen Molekularbiologen François Jacob folgenden Eindruck:
       „Mit wilderer Miene denn je, das Hemd aus der Hose hängend, die Beine nackt, die Nase in der Luft, die Augen aufgesperrt und mit kurzen Zwischenrufen die Bedeutung seiner Darlegungen unterstreichend, erläuterte Jim die Struktur.“ Das Publikum zeigte sich begeistert, was in den Worten des ebenfalls staunenden Jacob so zum Ausdruck kommt:
       „Diese Struktur war von solcher Einfachheit, solcher Vollkommenheit, war so harmonisch und sogar schön, ihre biologischen Vorteile waren so eindeutig, so klar ersichtlich, daß man gar nicht auf die Idee kam, daß dabei etwas nicht stimmen könnte“.
 
       Diese Angst vor einem übersehenen Fehler in der Struktur quälte Watson zwar noch eine Zeit lang, aber allmählich dämmerte ihm, daß er zusammen mit Crick eine Jahrhundertleistung für die Wissenschaft im Allgemeinen und für die Biologie im Besonderen vollbracht hatte, und in den folgenden Jahren reifte in ihm der Gedanke, die Geschichte seines Erfolges zu schreiben. Das Buch ist dann 1968 mit dem Titel „Die Doppelhelix“ erschienen, und dazu lassen sich zwei Anekdoten erzählen. Zum einen schildert Watson in seinem Bericht über die frühen 1950er Jahre in Cambridge die prüde Atmosphäre der englischen Universitätsstadt, in der er als eher unberechenbarer Amerikaner Mühe hat, überhaupt in die Nähe von Mädchen zu kommen. Umso erfreuter nimmt er eines Tages zur Kenntnis, daß es demnächst einen amerikanischen Spielfilm in den Kinos gibt, in dem eine Schauspielerin nackt zu sehen ist. Watson eilt voller Erwartung in die Freitagsvorstellung, aber nur, um im Verlauf des Abends festzustellen, daß die Szene mit dem unbekleideten Star herausgeschnitten worden ist. Er kehrt frustriert in seine winzige Bude zurück, macht sich am Samstag früh in das Laboratorium auf – und sieht nach einigem Herumfummeln mit handlichen Bausteinen, wie das genetische Material des Lebens aufgebaut ist, nämlich als ein sich innig umarmendes und fest vereinigendes Paar aus Molekülen, die genauso ineinander passen wie ein Schlüssel und ein Schloß (oder ein Mann und eine Frau). Am Anfang des Lebens, so sieht es Watson mit seinem Modell vor seinen begehrenden Augen, steht die verschlungene Paarung von Molekülen, die er als Mensch in seinem Leben erst noch vor sich hat.
       Die zweite Geschichte spielt 1968, als „Die Doppelhelix“ erscheint und mit ihrer ungewöhnlich freizügigen Darstellung des Wissenschaftsbetriebs dermaßen für Furore sorgt, daß das Time Magazin eine Titelgeschichte dazu bringen möchte und einen Fotografen zu Watson schickt. Die Aufnahmen werden gemacht, die Interviews werden geführt, der Artikel geschrieben, und jetzt wartet Watson voller Spannung auf das Erscheinen des Heftes mit seinem Konterfei auf dem Titel. Er fährt spätabends extra nach Manhattan, weil dort die Exemplare schon am Vorabend des Erscheinens in den großen Bahnstationen zu kaufen sind, rennt aufgeregt zu einem Kiosk – und sieht dort nicht sich, sondern den Führer der französischen Studentenrevolution, Daniel Cohn-Bendit, auf dem Titelblatt. In Paris hatte es nämlich im Mai 1968 fast eine Revolution gegeben, das ganze Land war in Aufruhr geraten, und die Redaktion des Time Magazin hat der Berichterstattung über diese dramatischen politischen Vorgänge den Vorrang vor der erregenden Doppelhelix eingeräumt (Exkurs: Die doppelte Doppelhelix).
       Übrigens – natürlich haben auch einige der hier vorgestellten großen Männer der Wissenschaft Watsons Bekenntnisbuch gelesen, und zwei Ansichten lohnen einen kurzen Blick. Auf die nicht zu überlesende Tatsache angesprochen, daß Watson ziemlich viele abschätzige Bemerkungen über seine Kollegen fallen lasse, meinte Max Delbrück lächelnd, ihm habe vor allem überrascht, wie schlecht Watson über sich selbst schreibe. Und Richard Feynman, der „Die Doppelhelix“ in einer Nacht durchgelesen hat, erwähnte einem Freund gegenüber, „das Erstaunliche an dem Bericht sei, daß Watson an einem so fundamentalen wissenschaftlichen Fortschritt beteiligt gewesen sei, ohne das Geringste von dem gewußt zu haben, was andere Wissenschaftler auf dem Gebiet machten.“ Mit anderen Worten, so Feynman weiter, „Forscher wie er und Watson könnten nur dann einen Durchbruch erzielen, wenn sie nichts von dem zur Kenntnis nähmen, was alle anderen täten und sich ganz allein auf sich stellten.“
 
 
© Ernst Peter Fischer