Der Schwanz

von Victor Auburtin

Victor Auburtin
Der Schwanz
 
Auf den brennend heißen Steinen, die am Abhang des Hügels lagen, saßen zwei Eidechsen und sahen sich an.
Er hieß Chilperich und sie hieß Hilde.
Sie sahen sich fünfundvierzig Minuten lang regungslos an, ohne auch nur mit den Augen zu zwinkern. Aber an dem Zittern ihrer Haut, die mit einem geschmackvollen Stickereimuster verziert war, konnte man das Schlagen ihrer kleinen Herzen erkennen.
Die Gräser ringsherum rührten sich auch nicht, und die große Sonne stand wie festgenagelt am Himmel. Und durch die Gräser hindurch sah man das ferne mittelländische Meer, das in einem blauen Traume tief eingeschlafen war.
Fünfundvierzig Minuten lang sahen Hilde und Chilperich sich an und rührten sich nicht. Da drehte Chilperich plötzlich den Kopf quer, so daß ein Auge zur Erde, das andere zum Himmel sah, und diese Bewegung heißt in der Sprache der Eidechsen: Ich habe dich lieb.
Sowie Hilde diese Bewegung sah, drehte sie sich um und raschelte fort, und Chilperich raschelte ihr nach. Und so heftig raschelten sie beide, daß eine dort sitzende deutsche Maldame glaubte, es sei eine Schlange und entsetzt mit ihrer Staffelei von dannen floh; wodurch eine der besten Landschaften für die Herbstausstellung deutscher Künstlerinnen verlorenging.
 
Die Eidechsin Hilde aber huschte durch das Gras fort, fuhr die verfallene Mauer des Olivengartens hinauf und schlängelte sich durch das große Steinfeld, und Chilperich immer hinter ihr her. An dem bekannten Schieferstück, das bei den Eidechsen Prinzessin-Arnalia-Ruh heißt, stellte er sie, sprang vor sie hin und sagte noch einmal: „Ich habe dich lieb.“
Sie aber antwortete: „Du bist ein Ekel; ich kann dich nicht mehr ausstehen mit deinem ewigen Augenverdrehen; und wenn du mir auch nur noch einen Schritt nachgehst, wende ich mich ganz einfach an einen Schutzmann.“ Damit raschelte sie fort und ließ Chilperich stehen.
Eine Stunde lang stand Chilperich regungslos und sah durch die Halme auf das ferne stille Meer. Dann erblickte er vor sich eine dicke blaue Brummerfliege, schoß auf sie los und fraß sie. Und nun ging er langsam durch die Steine weiter, und fing hier eine Mücke, da eine Libelle.
Am Abhang begegnete er der kleinen Eidechsin Mathilde, die ihm sagte: „Chilperich, du solltest nicht im Gehen essen, das schickt sich nicht.“ Dabei lächelte sie so nett, daß Chilperich auch lächeln mußte, und dann bezüngelten sie sich mit ihren Schlangenzünglein, und gleich darauf begannen sie jenen Haschetanz, der in der Eidechsensprache sagt: Wir wollen jetzt sehr glücklich sein. Aber wie sie mitten dabei waren, fuhr die Eidechsin Hilde, die sich nur versteckt hatte, aus dem Gebüsch hervor auf Chilperich zu und biß ihm den Schwanz ab. Chilperich schlich langsam und stummelig in seine Steinwohnung und war traurig. „Erst sagt sie mir, ich sei ein Ekel, und wenn ich mit der Mathilde tanze, beißt sie mir den Schwanz ab.“ So dachte er sich und wunderte sich sehr, denn er war noch jung und verstand nicht viel von den Geheimnissen des Frauenherzens. Der abgebissene Schwanz aber lag zwischen den Steinen und Gräsern und wand und krümmte sich in der Einsamkeit. Offenbar hatte er immer noch nicht genug und wollte immer noch mitmachen in dieser unruhigen und schönen Welt. Und erst als die Sonne rot in das heiße Meer gesunken war, gab er es auf und wurde ruhig.
 
Victor Auburtin