Biographie eines Charakterschweins

Oliver Rathkolb – „Schirach“

von Renate Wagner

Biographie
eines Charakterschweins
 
Baldur von Schirach
- Reichsjugendführer -
 
Ein Label am Schutzumschlag besagt, daß dieses Buch für den Preis „Wissenschaftliches Buch des Jahres 2021“ nominiert ist, und es bringt viele Voraussetzungen mit, hier zu gewinnen. Es ist eine glänzend recherchierte und dabei überaus lesbar erzählte Biographie, ein breites Spektrum eines Lebens, eingebettet in seine Zeit, Darstellung und Analyse zugleich. Eines allerdings fällt durchgehend auf: Der Autor hegt absolut keine Sympathie und nur bedingt Verständnis für seinen Gegenstand. Wie auch, wenn es sich um einen der großen Nazi-Bonzen handelt?
Oliver Rathkolb, der sich unermüdlich am Dritten Reich abarbeitet, hat sich Baldur von Schirach vorgenommen, einen Mann, der zwar so „deutsch“ war, wie es sich der Führer von seinem dortigen Adel nur erwarten konnte, dessen Name aber gerade in Österreich aber noch wetterleuchtet. Er war es, der in den Kriegsjahren so etwas wie „Wiener Kultur“ hoch gehalten hat, in Theater, Oper, Ausstellungen und vor allem mit den Wiener Philharmonikern, von denen ihm manche über den Krieg hinaus noch treues Andenken bewahrten.
Rathkolb, der allerdings nie bereit ist, Schirach in irgendetwas, das er tat, edle Motive zu unterstellen, weist jede Idee von ehrlichen Wohltaten zurück. Zumal sich Schirach (außer als Ausnahmefall für die Schwiegertochter von Richard Strauss) nie für Juden eingesetzt hat. Was ihm in seiner Stellung allerdings auch besonders schwer gefallen wäre.
Zu Beginn schildert der Autor Schirach, geboren 1907 in Berlin, aufgewachsen in Weimar, wo sein Vater Intendant der Bühnen war, durchaus als Produkt seiner Herkunft und Erziehung: Man war deutsch und antisemitisch, kaisertreu und konservativ, und so, wie Schirach in einem Jungen-Internat „geschliffen“ wurde, legte er es später mit aller Begabung für Manipulation auf die Hitler-Jugend um, die er zu willfährigen Geschöpfen des Regimes drillte.
Hitler früh zu begegnen und dann in München seine Nähe zu suchen, verhalf ihm nach einigen Umwegen zu einer lupenreinen Nazi-Karriere, wobei er seine Bewunderung und Ergebenheit für den „Führer“ wohl auch nicht verlor, als er aus der Gnade fiel, ebenso wenig nach 20 Nachkriegsjahren im Gefängnis.

Daß er in Nürnberg nicht am Galgen endete, sondern – ebenso wie Albert Speer – mit 20 Jahren Gefängnis davon kam, hatte wohl nicht zuletzt damit zu tun, daß seine Mutter Amerikanerin war (Schirach sprach bis zu seinem fünften Lebensjahr nur Englisch) und es ihm gelang, den amerikanischen Psychiater so für sich einzunehmen, daß dieser ihn als „verführbaren Romantiker“ charakterisierte. Daß er von all den Judendeportationen und –Morden nichts gewußt haben wollte, glaubt ihm sein Biograph keine Sekunde, war auch als Selbstschutz glatt gelogen.
Schirach, der mit seinem glatten, deutschen Gesicht keine so abstoßende Erscheinung war wie Goebbels, Göring oder Himmler, galt als Strahle-Boy der Nazis. Rathkolb unterstellt ihm nicht, daß er Henny Hoffmann, die Tochter von Hitlers Leibfotografen, aus Berechnung geheiratet hat, aber geschadet hat es ihm (zumindest in den frühen Jahren) nicht. In seinen Anfängen bewährte er sich als überaus geschickter Propagandist Hitlers, indem er diesen in zahllosen Publikationen effektvoll ausstellte.
Hier muß man übrigens erwähnen, daß man selten ein Buch erlebt hat, das so glänzend und ausführlich bebildert war, immer wieder stehen Textseiten ganze Fotoseiten gegenüber, die das eben behandelte Thema eindrucksvoll illustrieren und die Atmosphäre der Zeit beschwören. Wer immer diese Recherche unternommen hat, hat Außerordentliches für das Buch und seine Wirkung geleistet.
Tatsächlich war Schirach auf vielen Ebenen (Propaganda, Jugendarbeit) so erfolgreich, daß er Neid erregte, vor allem bei Goebbels, der sich anfangs in seinen Tagebüchern überaus begeistert über ihn geäußert hatte, aber nach und nach immer giftiger wurde. Daß man Schirach 1940 zum Gauleiter von Wien ernannte, war kein Aufstieg, sondern eine Abschiebung aus dem Zentrum der Macht. Schirach begann allerdings sofort (sicher auch zu seinem eigenen Ruhm, wie sein Biograph meint), Wien ehrgeizig durch kulturelle Aktivitäten in den Vordergrund zu rücken, womit er sich Hitlers Ärger zuzog – dieser wollte sich an der Stadt, die seine Künstlerkarriere verhindert hatte, rächen und Linz zum großen, auch kulturellen Zentrum ausbauen.
Dazu war allerdings während des Krieges keine Zeit mehr, und Schirach konnte sich so lange halten, bis die russischen Truppen die Stadt einnahmen – zu ihrer Verteidigung hatte er nichts getan, angeblich die letzten Tage vor dem Eintreffen der Roten Armee mit seiner Entourage in den Kellern der Hofburg gefeiert und auf die „Wunderwaffe“ gehofft…

Schirach floh zuerst, wie so viele Nazis, in den Westen, stellte sich aber dann selbst und kam in Nürnberg mit einem blauen Auge davon. Henriette von Schirach, die sich rühmen kann, Hitler am Berghof direkt auf die Mißhandlung der Juden, wie sie sie in Amsterdam gesehen hatte, angesprochen zu haben (Hitlers Wutausbruch wird ebenso berichtet wie die Tatsache, daß die Schirachs danach nie wieder eingeladen wurden), hielt nichts von Nibelungentreue und ließ sich bald von ihrem Mann und Vater ihrer vier Kinder scheiden. Sie wollte nicht 20 Jahre auf ihn warten, und als Frau, die gewohnt war, im Mittelpunkt zu stehen, versuchte sie das auch in einer Nachkriegs-Schickeria Gesellschaft (und mit einem eigenen Memoiren-Klatsch-Buch).
Schirach und Speer wurde nicht ein Tag ihrer Haft geschenkt – nach 20 Jahren waren sie wieder frei. Während Speer mit seinen Memoiren Weltruhm erntete und sich als „guter Nazi“ präsentieren konnte, bevor man ihn als solchen demolierte, hatte Schirach mit seinen Memoiren weniger Erfolg, wenngleich sein Slogan „Ich glaubte an Hitler“ natürlich viel Zuspruch fand, war es doch vielen Deutschen genau so gegangen. Schirach lebte nach seiner Entlassung 1966 noch acht Jahre und starb am Ende weitgehend unbeachtet 1974 in einem kleinen Ort an der Mosel.
Er hatte sich im Glanz der Nazi-Führung gebadet und propagandistisch viel dazu beigetragen. Daß ein Mann seiner Herkunft, mit seinen Talenten den falschen Weg ging – möglicherweise hat er es bis zum Ende nicht eingesehen. Die Nachwelt kennt mit ihm und seinesgleichen keine Gnade, sieht weit eher die Charakterschweine als möglicherweise fehl geleitete Idealisten.
 
Oliver Rathkolb – „Schirach“
Eine Generation zwischen Goethe und Hitler
© 2020 Molden Verlag, 352 Seiten, gebunden - ISBN 978-3-222-15058-6
32,- €
 
Weitere Informationen: www.styriabooks.at