Vom Lückenfüller zur Kunstform

Privatdozent Dr. Christian Klein beschäftigt sich wissenschaftlich mit Comics

von Uwe Blass

Christian Klein - Comicadaption von Jana Fischer
Vom Lückenfüller zur Kunstform
 
Privatdozent Dr. Christian Klein
beschäftigt sich wissenschaftlich mit Comics

Micky Maus, Donald Duck, Batman, Superman, Popeye, Peanuts, Garfield, Lucky Luke, Ottifant etc. sind unterschiedliche Helden unserer Kindheit, doch haben sie eines gemein: Sie alle gehören zu den Comics, jenen kunstvollen Bildergeschichten, die seit einigen Jahren auch Gegenstand der Wissenschaft geworden sind.
Comics, wie wir sie heute lieben, entstanden erst am Ende des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten. „Zunächst gab es ganzseitige Comic-Geschichten in den Sonntagsbeilagen der Tageszeitungen, deren Beliebtheit dazu führte, daß man auch unter der Woche die Leser mit Comics unterhalten wollte. Daß Comicstrips so aussehen, wie wir sie heute kennen, hat damit zu tun, daß sie in den Wochentagsausgaben dann da eingesetzt wurden, wo gerade noch Platz war“, weiß Christian Klein, der in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften als Privatdozent Neuere deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft lehrt. „Da hatte man eben Spalten, in die paßten nur schmale Streifen mit wenigen Bildern – für diese frühen `Comic-Streifen´ hat sich dann schnell der Begriff `Comicstrip´ eingebürgert.“

Ein Lückenfüller generiert eine neue Leserschaft

Die Geschichte von Bilderfolgen ist aber schon viel älter. Die einen datieren sie in die Antike, andere ins Mittelalter. Sie finden sich in japanischen Tuschezeichnungen ebenso wie in gestickter Form. „Der Teppich von Bayeux (…ist eine in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts entstandene, insgesamt 68 Meter lange Stickerei. Anm. d. Red.) aus dem Mittelalter über die Eroberung Englands in Einzelbildern wird oft als eine Art Vorläufer der Comics betrachtet“, antwortet Klein auf die Entstehungszeit angesprochen, „aber die Geburt des modernen Comics wird eigentlich in den 1890er Jahren in New York angesetzt.“ Zeitungen nutzten die Dienste der aufkommenden Comiczeichner zunächst als unterhaltsame Lückenfüller, um textfreie Stellen auszufüllen. Aber mit den kurzen Bilderfolgen eroberten sie zeitgleich eine neue Käuferschicht, denn „die frühen Comics waren oft an bestimmte Personengruppen gerichtet“, erklärt der Wissenschaftler. So zielte der erste erfolgreiche Comicstrip des Zeichners Richard Felton Outcault, der Geschichten um das sogenannte `Yellow Kid´ erschuf, auf irische Emigranten ab. Er ließ seine neu geschaffene Kunstfigur in einem Slang sprechen, in dem sich die Einwanderer wiedererkannten. „Entsprechend war dieser Comic unter den irischen Emigranten sehr erfolgreich. Damit hat sich die Zeitung eine Leserschaft erschlossen, die sonst die Zeitung vermutlich nicht gekauft hätte.“ Auch ein deutscher Comiczeichner, der Emigrant Rudolph Dirks, konnte ab 1897 mit seinen `Katzenjammer Kids´ eine Erfolgsserie starten, die an `Max und Moritz´ angelehnt war. „Die Figuren haben so eine Art deutsch-englisches Kauderwelsch gesprochen, das sich anhörte, als wenn man mit einem starken deutschen Akzent Englisch spricht. Die deutschen Emigranten, die vielleicht noch nicht so gut Englisch sprachen, konnten diese Comics verstehen, weil es nicht so viel Text zu entziffern gab und man sich die Handlung über die Bilder erschließen konnte“, sagt Klein.

Mit Micky Maus-Heften zum Wochenendeinkauf fing alles an

Wie viele von uns, ist auch Christian Klein zu seinen gezeichneten Helden über das Comicsortiment der Zeitschriftenhändler beim Einkauf der Eltern gekommen. „Ich habe als Kind viele Comics gelesen. Bei uns zu Hause waren Comics nicht verpönt. Beim Wochenendeinkauf durfte ich mir immer ein `Micky Maus´-Heft mitnehmen, das ich dann durchgelesen habe, und mein Vater hat auch alle Asterixhefte gehabt“, erklärt der gebürtige Bremer. „Was ich auch ganz toll fand und immer wieder gelesen habe, war `Nick Knatterton´. Das ist so eine Detektivpersiflage aus den 50ern (von Manfred Schmidt, Anm.d.Red.). Da spielen technische Gadgets (kleine technische Gegenstände Anm. d. Red.) eine wichtige Rolle. Nick Knatterton hat immer ganz tolle, merkwürdige Erfindungen und Hilfsmittel genutzt. Es gibt so Querschnitte, in die man dann in diese Erfindung hineinschauen kann, um zu sehen, wie die Apparaturen ablaufen. Das fand ich super!“ Aber sein eigentlicher Favorit ist die Figur Gaston Lagaffe des belgischen Comiczeichners André Franquin. „Er ist kein Held im klassischen Sinne, sondern eher ein Antiheld. Franquin hat eine Comicreihe über diesen Redaktionsboten in einem Verlag geschrieben. Die Comics heißen auch `Gaston´. Er ist zwar faul, aber liebenswert und gibt sich immer Mühe, es allen recht zu machen und hat auch immer wahnsinnig kreative Ideen. Aber es endet alles immer im Chaos. Den habe ich schon als Jugendlicher immer gerne gelesen.“
 
Forschungsgegenstand Comic
 
„Wenn man von Helden in Comics spricht, denkt man natürlich gleich an Superhelden. Es gibt im Hinblick auf Superheldencomics drei Zeitalter“, erklärt Klein, „das Goldene, das Silberne und das Dunkle Zeitalter, und in der ersten Phase waren die alle strahlend und patriotisch – wie eben Superman.“ Aber mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kippte die Gewogenheit der Leserschaft, denn sie empfanden diese durchweg positiven Helden zunehmend als langweilig. „Dann hat man verstärkt auf gebrochene Figuren wie z.B. Spiderman gesetzt, der eigentlich ein ganz normaler Junge ist, der durch einen Unfall zu seinen besonderen Fähigkeiten kommt, die ihm nicht nur Freude machen. Er hadert mit seinen ganzen Jugendlichen-Problemen und ist außerdem noch Superheld.“
Immer wieder beschäftigte sich Klein mit der Kunstform Comic und kam dann mit seiner Kollegin Julia Abel auf die Idee, ein Comicseminar an der Bergischen Universität anzubieten, um die diversen Facetten der gezeichneten Bilderfolgen zu beleuchten. „Im deutschsprachigen Raum kann man sagen, daß die intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit Comics so um die Jahrtausendwende anfängt, während das in den USA und auch in Frankreich schon früher losgeht“, erzählt er. Daher sei auch die Sekundärliteratur im deutschsprachigen Raum lange eher überschaubar gewesen. Die Entwicklung in den USA war allerdings zunächst von einer comicfeindlichen Haltung geprägt. „In den 50er und 60er Jahren wollte man nämlich von soziologischer und psychologischer Seite her belegen, daß Comics schlecht für die Jugend seien, und hat sich aus diesem Grund intensiv mit Comics beschäftigt“, erläutert der Forscher. Die heftige öffentliche Kritik an Horrorcomics oder Crimecomics führte bei den Verlagen zu einer Art Selbstzensur, dem sogenannten `Comics Code´, den sie sich aus Angst, ihre Hefte könnten nicht mehr verkauft werden, auferlegten. Fortan waren alle möglicherweise kontroversen Themen und Darstellungen tabu. „Der `Comics Code´ führte zu einer inhaltlichen Verflachung der Comics und zu einer Anpassung an das herrschende konservative Wertesystem“, sagt Klein. „Aber in den 60er Jahren entwickelte sich eine Art Gegenbewegung, die sogenannten Undergroundcomics, die jetzt alles zeigten: Drogenkonsum, Sex, Gewalt, Wahnsinn, alles, was in den weichgespülten Comics für die Jugend keinen Platz hatte.“
Undergroundcomics oder auch `Comix´ – das `x´ am Ende steht dann selbstironisch für `x-rated´, also `nicht jugendfrei´ – bilden so auch die Grundlage für den Boom der Graphic Novel in den 80er Jahren. „Comic-Autoren wie Art Spiegelman, die im Underground-Milieu anfingen, sorgten dafür, daß die Graphic Novels – also längere Comic-Erzählungen in Buchformat, die sich eher an ein erwachsenes Publikum richten – auch im seriösen Feuilleton ankamen. Die Freiheit und Subversion war für die Autoren ganz wichtig. Das ist dann mit ein bißchen Verspätung auch nach Deutschland übergeschwappt.“ Mit allen zentralen Genres vom Comicstrip über Superhelden-Comic und Graphic Novel bis zu Mangas beschäftigt sich auch das Buch von Klein und Abel, `Comics und Graphic Novels´, in dem sie einen Überblick über die historisch-kulturellen, theoretischen und analytischen Dimensionen der Beschäftigung mit Comics und Graphic Novels bieten.

Der Comic kann vieles darstellen, wofür einem die Worte fehlen

„Der Comic hat in der Regel eine Erzählebene mehr, weil Comics ja normalerweise aus Text und Bild bestehen“, erklärt Klein, „und er kann dadurch auch sehr komplex erzählen, ohne daß das für den Leser kompliziert wird.“ Die Text-Bild-Beziehung ermögliche es etwa, gleichzeitig verschiedene Erzählerstimmen oder verschiedene Erzählperspektiven zu präsentieren. So fänden sich gerade in autobiographischen Comics häufig Textblöcke, die entweder im Bild selber, darüber oder darunter positioniert seien und in denen eine Figur als Erzählendes Ich z.B. aus der Rückschau berichte, wie sie als Kind eine bestimmte Situation erlebt habe, während der Leser im Bild die gleiche Person dann als Kind in genau der geschilderten Situation sehe. „Wir haben also auf einen Blick Erzählendes und Erlebendes Ich in einem Bild präsent. Diese Form der Gleichzeitigkeit ist bei Erzähltexten so nicht möglich, könnte nur annäherungsweise mit viel Aufwand erreicht werden, weil Erzähltexte auf Sukzessivität verpflichtet sind, weil man Wort für Wort lesen muß. Der Comic kann diese Gleichzeitigkeit durch die Text-Bild-Kombination problemlos herstellen, das im Bild Gezeigte kann dabei auch der retrospektiven Schilderung aus der Erinnerung widersprechen und damit besondere Spannungsmomente einbauen, wobei visuell immer klar ist, auf welcher Erzählebene wir uns befinden. Gerade die Bilder ermöglichen es, daß im Comic vieles thematisiert und dargestellt werden kann, wofür einem vielleicht die Worte fehlen.“
Selbst im Gesundheitsbereich sind Comics bereits angekommen. Comics berichten von Krisensituationen und Problemen oder erzählen gar Krankengeschichten. „Dazu hat die Freie Universität in Berlin sogar ein eigenes Forschungsprojekt, das PathoGraphics heißt. Es beschäftigt sich nur mit Comicerzählungen von Krankheiten. Die Präsenz dieser oft autobiographischen Comics über Krankheit legt den Eindruck nahe, daß die Autoren da über die Bilder etwas vermitteln können, wovon sie ansonsten nicht so gut erzählen können. Diese Offenheit der Bild-Text-Kombination, das ist schon etwas sehr Besonderes. Man hat sehr schnell eine affektive, emotionale Beziehung dazu.“

Generationsübergreifend, weil voraussetzungslos

Comicfans findet man in jeder Generation. „Im Idealfall fange ich als Kind an zu lesen und höre als Greis nicht mehr auf“, lacht Klein und begründet das mit der Comics eigenen Voraussetzungslosigkeit. „Wir müssen nicht perfekt lesen können, um uns Comics anzusehen. Das ist ja oft auch der Einstieg in die Lesebiographie. Man kann einfach viel über die Bilder verstehen.“ Und dann erzähle der Comic oft auch verschiedene Geschichten für unterschiedliche Adressaten, erklärt der 47-Jährige. „Nick Knatterton ist ein gutes Beispiel dafür. Den habe ich als Kind als spannende Detektivgeschichte gelesen. Aber da gibt es viele politische Anspielungen. Es taucht z.B. ein Indianerhäuptling auf, der mir damals überhaupt nicht auffiel, aber der sieht genauso aus wie Konrad Adenauer (erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Anm. d. Red.), der dann etwas zur Wiederbewaffnung sagt und im Comic ironisch gebrochen wird. Das sind dann die Botschaften für die Erwachsenen. Gleichzeitig haben wir aber eben auch eine spannende Geschichte für Kinder.“ Auch in der Asterix-Reihe (von Albert Uderzo und René Goscinny, Anm.d.Red.) treffe man diese verschiedenen Ebenen immer wieder an. „In `Der Papyrus des Cäsar´, wo es um eine Propagandaschlacht zwischen den Galliern und den Römern geht, taucht eine Figur auf, die wie der Whistleblower Julian Assange aussieht. Damit können Kinder vermutlich nicht viel anfangen. Sie lesen die interessante, spannende Geschichte und die Erwachsenen haben gleichzeitig einen politischen Subtext.“
Die Vielfalt der Comicthemen und -stile ist schier unbeschreiblich. Fantasy und Mangas fesseln den Literaturwissenschaftler nicht so sehr. „Aber das ist auch eine Sozialisierungs- und Geschmacksfrage“, gibt er offen zu und sagt über seine Studierenden: „Ich bin immer wieder fasziniert, wenn ich zum Comic Seminare mache, denn in jedem Seminar sind echte Mangacracks. Die kennen alles, die kleinsten Details und auch die Fachbegriffe.“
Aber Mangaforschung ist wieder ein anderer Wissenschaftszweig.


Buchtip:
Julia Abel / Christian Klein (Hg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016, 328 Seiten, 24,99 EUR.