Vom Mittelalter zur Neuzeit
Vor 500 Jahren starb Sebastian Brant
Von Heinz Rölleke
Kalendarisch genaue Daten, was Ende und Anfang einer geschichtlichen Epoche betrifft, sind nicht eindeutig gesichert. Es gab/gibt aber immer wieder Instanzen, die solche Daten festlegen. So waren zum Beispiel die personellen und finanziellen Ausstattungen bestimmter Institute an den nordrhein-westfälischen Universitäten an die vom Kultus- oder Wissenschaftsministerium bestimmten Daten gebunden: Die germanistischen Seminare erhielten getrennt Mittel für ihre sogenannte Ältere (Mediävistik) und Neuere Abteilung (neuere deutsche Literatur). Stichtage waren der 31. Dezember 1499 und der 1. Januar des Jahres 1500, an denen nach kameralistischen Erwägungen das Mittelalter schloß und die Neuzeit begann.
Dem Geisteswissenschaftler erscheint das als (fast) pure Willkür, aber bei der Zumessung von Dotierungen, muß man natürlich exakte Grenzen setzen – auch was längst vergangene Zeiten betrifft.
Die meisten Argumente für den Beginn des Mittelalters bietet das Jahr 529. Die Historiker indes gingen und gehen natürlich von ganz verschiedenen politischen Ereignissen aus, die das Ende des Altertums erkennen lassen könnten: Etwa die Aufspaltung des Römischen Reiches im Jahr 395, das Ende Westroms 476 oder der Tod Justinians, des letzten „lateinischen Kaisers“, anno 565. Natürlich kann man bei solchen Theorien kaum auf das Bewußtsein der Zeitgenossen setzen, denn die Bedeutung solcher Daten wird stets erst im historischen Rückblick erkennbar.
Die Fixierung allein auf Daten der politischen Geschichte verengt den Blick und läßt vielleicht entscheidendere Wendepunkte außer Acht. Diese stellen sich für das Jahr 529 in der Kirchengeschichte (Gründung der Benediktiner, des ersten mittelalterlichen Mönchsordens, und seines Stammsitzes Monte Cassino durch Benedikt von Nursia); in der Rechtsgeschichte (Codifizierung des für ein Jahrtausend maßgebenden römischen Codex Justinianus); in der Philosophiegeschichte (Schließung der platonischen Philosophenschule in Athen; erste schriftlich nachweisbare Zitierung des Aristoteles, dessen Lehren für das europäische Mittelalter grundlegend wurden); in der Geschichte der Medizin (in Monte Cassino und von dort ausstrahlend wird die hippokratische Medizin gelehrt und durchgesetzt).
In dieser Häufung kann man natürlich letztlich einen Zufall sehen – die veränderten Zeichen der Zeit sind aber doch ziemlich gleichmäßig in ihren anfänglichen Spuren im Geschichtsverlauf erkennbar.
Sehr viel schwieriger erscheint die kalendarische Festlegung des Zeitpunkts, an dem das Mittelalter in die frühe Neuzeit übergegangen ist. Da werden am häufigsten der Beginn der Buchdruckkunst (um 1450), der Verlust Konstantinopels (1453), die Entdeckung Amerikas (1492), der Beginn der Reformationen (Johann Hus 1412; Martin Luthers Thesenanschlag 1517) genannt. Seit der Romantik und verstärkt in jüngerer Zeit wird erwogen, zumindest die geistesgeschichtlichen Linien des Mittelalters bis zum Beginn der Aufklärung nachzuweisen, da noch das europäische Barockzeitalter mehr mittelalterlich als neuzeitlich geprägt sei. Vor allem der berühmte französische Historiker Paul Hazard hat in seinem weltweit rezipierten Werk „Die Krise des europäischen Geistes 1680-1715“ überzeugende Argumente dafür beigebracht, die Schwelle vom Barock zur Frühaufklärung als Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit zu definieren. Dabei kann man für das Jahr 1715 etwa den Tod des Sonnenkönigs Ludwig XIV., die Abschaffung der Hexenprozesse in Preußen, die Erfindung einer ersten (noch einseitig wirkenden) Dampfmaschine und vor allem die internationale Anerkennung des letzten Universalgenies Leibniz in Erwägung ziehen. Kunst-, Musik- und Literaturhistoriker versuchen, das Ende und den Beginn ganzer Zeitalter eher an epochalen Kunstwerken festzumachen. In der Germanistik wurden und werden noch gegenwärtig neben dem tiefgreifenden Sprachwandel vom Mittel- zum Neuhochdeutschen unter anderen die erste humanistische Dichtung („Der Ackermann aus Böhmen“ im Jahr 1401) und vor allem „Das Narrenschiff“ des Sebastian Brant (1494) als (Vor)Zeichen einer neuen Epoche gewertet.
Der „Ackermann“ Johannes von Tepls wurde und blieb auch durch preiswerte Taschenbuchausgaben, neuhochdeutsche Übersetzungen und Bearbeitungen gerade im 20. Jahrhundert sehr bekannt und populär. Schon 1945, unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs, hatte eine szenische Darstellung des tiefsinnigen Streitgesprächs eines Witwers mit dem leibhaftigen Tod und dem abschließenden Urteilsspruch Gottes an der Kölner Universität eine große Wirkung: Die Dichtung wurde seither immer wieder in zahlreichen Editionen, auf Schallplatten, als Radiohörspiel oder als Theaterinszenierung sowie in wissenschaftlichen Diskussionen auf hohem Niveau vorgestellt und lebendig erhalten. Ich habe in mehreren Vorträgen und vor allem Seminaren an Universitäten wie an Volkshochschulen erleben dürfen, wie sehr sich auch der moderne Mensch von diesen zeitlosen Fragen nach dem Sinn des Lebens und des Sterbens berührt fühlt. Der Prager Dichter Johannes von Saaz nimmt bewußt (wie Gottes Urteilsspruch auch) weder für die mittelalterlich anmutenden Argumente des Todes noch für die moderner erscheinenden Ausführungen des Menschen Partei. Er führt den Hörer und Leser völlig objektiv in die wahrhaft existenziellen Fragen ein und gibt dazu eine unglaubliche Fülle von eindrucksvollen Pro- und Contra-Argumenten zu bedenken.
Steht der „Ackermann“ also nach einhelliger Meinung der Literaturwissenschaftler genau auf der Schwelle zwischen Mittelalter und
Sebastian Brant, um 1458 in Straßburg als Sohn eines Gastwirts geboren und dort am 10. Mai 1521 gestorben, studierte seit 1475 Jura an der Universität Basel, an der er nach Erlangung zweier Doktor-Titel als Professor und Dekan wirkte; 1500 kehrte er für immer in seine Heimatstadt zurück, wo er zum Stadtsyndikus und Stadtschreiber aufstieg. Von Maximilian I. wurde er mit den Titeln Kaiserlicher Rat und Pfalzgraf ausgezeichnet. Er gab antike und mittelalterliche Spruchsammlungen in eigenen Übersetzungen heraus und trat als Dichter in lateinischer Sprache seit 1493 hervor, darunter Carmina auf ihm besonders nahestehende Heilige wie St. Ivo (den Schutzpatron der Juristen) oder St. Sebastianus (seinen Namenspatron). 1494 erschienen die als Gemeinschaftswerk mit Johann Bergmann verfaßten „Carmina in laudem Mariae.“
Sein Hauptwerk ist die bis heute unvergessene frühneuhochdeutsche Paarreimdichtung „Das Narrenschiff“, in der menschliche Torheiten und Schwächen in 112 Narrentypen vor Augen gestellt und beurteilt werden. Diese Narren fahren auf einem Schiff geradewegs in ihren Untergang. Das opulente Werk erschien erstmals 1494 und gilt neben Goethes „Werther“ und Grimms „Kinder- und Hausmärchen“ als einer der größten und außerordentlichsten Erfolge eines deutschsprachigen Buches. Der Narr wurde in zahllosen Adaptionen und Weiterdichtungen (Grimmelshausen, Moscherosch) für Jahrzehnte, bis ins 18. Jahrhundert hinein, in ganz Europa zu der poetischen Symbolfigur. Formales Vorbild Brants waren antike (vor allem römische) Satiredichtungen. Thematisch geht es um die Porträtierung einzelner Narreteien, die in volkstümlicher Sprache oder und leicht dechiffrierbaren Holzschnitten (zum Teil vom jungen Albrecht Dürer) geboten werden. Die Einfügung zahlreicher Sprichwörter trug das Ihre zur Popularität des alsbald berühmtesten humanistischen Buches bei (der Praxis der Grimm'schen Märchenbearbeitungen vergleichbar; bezeichnenderweise gaben Brant 1508 und Wilhelm Grimm 1834 jeweils eine Ausgabe der hochmittelalterlichen Spruchsammlung „Freidanks Bescheidenheit“ heraus). Bis zu Brants Tod erschienen nicht weniger als 16 Auflagen in deutscher Sprache. Die der neuhochdeutschen Sprache nicht mächtigen Leser wurden 1497 mit einer niederdeutschen Überarbeitung („Dat narren schyp“) bedient, und im gleichen Jahr 1497 legte Jakob Locher eine Übertragung ins Lateinische unter dem Titel „Stultifera navis“ vor. Diese Übersetzung trug viel zur weiten Verbreitung des Brant'schen Meisterwerks bei, denn die lateinische Fassung wurde binnen weniger Jahre in verschiedene Volkssprachen übersetzt (unter anderen ins Niederländische, Französische oder Englische – übrigens die erste Übertragung eines deutschsprachigen Werks ins Englische überhaupt!). Schon die frühe Germanistik hielt das Werk seit dem 18. Jahrhundert lebendig und zeitigte 1854 mit der hervorragenden Edition von Friedrich Zarncke (495 eng bedruckte, großformatige Seiten) ein seinerseits zeitüberdauerndes philologisches Meisterwerk.
Joachim Knape, einer der besten Kenner des Werks resümiert 2005 in seiner Reclam-Ausgabe:
Als deutschem Dichter kann Brant unter den Zeitgenossen niemand den Rang streitig machen. Keiner hat in dieser Zeit eine ähnlich berühmte und in Europa enthusiastisch aufgenommene literarische Figur wie den Narren im „Narrenschiff“ geschaffen […], das Dicht-, Bild- und Buchkunst zu einem Ensemble von ähnlichem Rang vereint. […] Sein sensationeller Erfolg zog sofort zahlreiche Raubdrucke nach sich. Literarisch begründete es die europäische Tradition der Narrenliteratur.
Hier nun noch einige Worte zur literarischen Gattung „Satire“, für die Brants Werk unbestritten einer ihrer Höhepunkte ist. Schiller
Zu den kleineren Torheiten zählt Brant gleich im ersten Kapitel „Von vnnutzen buchern“ das Gebaren des Büchernarren, der Unmengen von Büchern anhäuft, aber „drynn gar wenig wort“ versteht und kaum auch nur die Buchrücken gelesen hat. Die (Schein)Gelehrten werden also wie die Narren durch die lachende Satire getroffen. Zeitlos und auch dem Gelächter der Leser preisgegeben sind zahlreiche weitere Kapitel wie „Von bulschafft (Nr. 13). „Von unnützem wünschen“ (Nr. 26) oder „Von dantzen“ (Nr. 61). Wen das eine oder andere kleinere Laster betrifft, der wird sich hier (wohl gegenwärtig noch) in einem Spiegelbild sehen. Eine ganz neue literarische Spezies begründet Brant mit seiner satirischen Schelte der Modenarren, in der er die Vorliebe für üppig gefältelte Kleider, Röcke, Mäntel und Schuhe, die den Flöhen und Läusen reichlich Unterschlupf bieten, bitter lachend kritisiert:
Der Rock, wie kurz und wie beschnitten,
Reicht kaum bis zu des Leibes Mitten.
Pfui Schande deutscher Nation,
Daß man entblößt der Zucht zum Hohn.
Und zeigt, was die Natur verhehlt!
Drum ist es leider schlecht bestellt.
Auch die modernen Miniröcke und die nabelfreie Mode hatte Brant schon vorhergesehen und kritisiert. Damit in eins sind einige zentrale Themen der im 17. Jahrhundert ins Kraut schießenden Alamode-Literatur vorgegeben – besonders deren ausdrückliche Kritik an den Deutschen, die wenig später als ehr- und sittenlose Nachahmer französischer und italienischer Vorgaben in Mode, Benehmen und in allen Künsten sowie - wegen der beängstigend wachsenden Sprachmengerei - grob beschimpft werden (dieser Alamode-Literatur huldigten zeitweise auch große Dichter wie Gryphius, Grimmelshausen, von Logau, Moscherosch bis hin zu Abraham a Santa Clara). Auch das sittenlose Karnevalstreiben wird angegriffen, dessen ursprünglicher und eigentlicher Sinn (die Sünder zeigen sich öffentlich zur Abschreckung der Zuschauer als Toren und Narren) unter den neuerlich zunehmenden groben Späßen nicht mehr erkennbar ist: „Von vasznacht narren“ (Kap. 110b). In Kapitelüberschriften wie „Von groben narren“ (Nr. 72) begegnet ein Stichwort, das auf „St. Grobian“ verweist, der als Schutzpatron der unflätigen Schlemmer und Säufer im Blick auf deren 'bäurisches' Benehmen vorgestellt wird (vgl. auch die Kapitel 110a, 82 und 102: „Von disches vnzucht“, „Von bürischem vffgang“, „Vom falsch vnd beschissz“): Auftakt zum bald in der satirischen Literatur ins Kraut schießenden „Grobianismus“, zu dessen Vertretern im weiteren Sinn Dedekind, Scheidt, Fischart, Sachs und Murner gehören. Auch der Spott auf die Bewohner des Schlaraffenlandes findet einen Platz in Brants Narrenkatalog: „Das schluraffen schiff“ (Kap. 108).
Strafend und damit im Schiller'schen Verständnis „erhaben“ wird Brants Satire, wenn es um den rechten Glauben, um Tod und Ewigkeit, Himmel und Hölle geht: „Von abgang des gloubens“ (Kap. 99), „Von wider gott reden“ (Kap. 28), „Von verachtung gottes“ (Kap. 85), „Verachtung ewiger freüd“ (Kap. 43), „Von dem weg der selligkeyt“ (Kap. 47), „ Nit fürsehen den dott“ (Kap. 85). In durchweg ernsthaftem, strafendem Ton wird die Schiffsallegorie eingefügt. Die „vorred in das Narrenschiff“ und „Das schluraffen schiff“ (Kap. 108) lassen spüren, daß diese Schifffahrt der Narren geradewegs ins Totenreich führt, das heißt, daß jeder Narr mehr oder weniger sein Lebensziel verfehlt. Hier knüpft der gewaltige Straßburger Domprediger Geiler von Kaisersberg (1445 bis 1510) an, der vor seinem Amtsantritt im Jahr 1478 ebenfalls in Basel studiert und es bis zum Rektor der Universität Freiburg gebracht hatte: 1498/99 deutete er die einzelnen Kapitel des „Narrenschiffs“ in einem Zyklus von über hundert Predigten aus und trug so zur Popularisierung und weiteren Verbreitung des Brant'schen Zentralwerks in allen Volksschichten bei. 1510 erschienen die Predigten in lateinischer Fassung im Druck, 1520 übersetzte der populäre Dichter Johannes Pauli aus dem Orden der Franziskaner diese Texte ins Deutsche.
Brants epochales Werk wurde und wird von der Literaturwissenschaft einhellig als „Pionierleistung im Bereich volkssprachlich-humanistischen Dichtens“ gewertet.
Wie nach ihm Geiler, verfolgt auch Brant erkennbar so uralte wie modern anmutende didaktische Ziele. Die negativen Beispiele menschlichen Fehlverhaltens sollen den Leser zur Einsicht in die Unvernunft mancher seiner eigenen Handlungen führen: „Dann wer sich für einen narren acht, / Der ist bald zů eym wisen gemacht.“ Ein nach wie vor bedenkenswerter Beitrag zur Forderung der altgriechischen Philosophie Γνῶθι σεαυτόν (Nosce te ipsum; Erkenne dich selbst!) gemäß einer Losung, die schon vor über zweieinhalb Jahrtausenden am Apollotempel zu Delphi gestanden haben soll.
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021
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