„Lieb und Leid und Welt und Traum“

Streaming-Konzert des Sinfonieorchesters Wuppertal mit Yulianna Avdeeva und Thomas Laske

von Johannes Vesper


„Lieb und Leid und Welt und Traum“

Streaming-Konzert des Sinfonieorchesters Wuppertal
mit Yulianna Avdeeva und Thomas Laske
 
Klassische Sinfoniekonzerte hat es im letzten Jahr Corona geschuldet nur vereinzelt gegeben. Das Sinfonieorchester Wuppertal hat zwar eine beeindruckende Diskografie von 21 CDs - die 22. wird gerade produziert - gab aber erst jetzt ein Streaming-Sinfoniekonzert, welches am 03./4. April stattfand und am 10./11. April wiederholt wird. Rachmaninows 2. Klavierkonzert, Gustav Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“ und Schuberts. 3. Sinfonie waren zu hören.
 
Zum 2. Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow (1873-1943) begrüßte die Pianistin zunächst alleine das Publikum. Schon ab dem 18.03.21 hatte Yulianna Avdeeva im großen Saal der Historischen Stadtzhalle Wuppertal auf Youtube erzählt, daß sie dieses Konzert nach 13 Jahren jetzt neu erarbeitet habe und die ca. 2000 Chat-Besucher an ihren Entdeckungen teilhaben lassen möchte. Sie berichtete von der großen Krise des Komponisten nach dem furchtbaren Mißerfolg seiner 1. Sinfonie, in dessen Folge ihn quälende Schlaflosigkeit, schädlicher Alkoholgebrauch, bedrohliche Selbstzweifel und eine anhaltenden Schreibblockade überfallen hatte. Unter Hypnose und Autosuggestion konnte er aber die Krise überwinden. „Das anschließend komponierte 2. Klavierkonzert trifft mit seiner spätromantischen, nicht enden wollenden Melodik direkt ins Herz des Zuhörers“, versprach die Pianistin. Es stamme aus demselben Jahr 1900, in welchem die Stadthalle erbaut worden sei. Nach ihren Worten betritt das Orchester wie üblich in schwarzer Dienstkleidung die weit in den Saal hinein verbreiterte Bühne, trägt bis auf die Bläser (sowie Dirigentin und Solistin) Masken und das Konzert beginnt mit den weit schwingenden Crescendo-Akkorden des Soloklaviers gegen das tiefe Cis. Mit dem Orchestereinsatz entwickelt sich eine stürmisch-düster aufgewühlte Stimmung, bevor sonore Bratschen und Celli, später das wunderbare Horn, mit lyrischem Seitenthema einsetzen. Im ständigen Miteinander von Klavier und Orchester nimmt dieses den oft virtuos-intensiven Solopart quasi in sich auf. Selbst für die Zeit um 1900 war die Tonsprache des „Spätlings“ Rachmaninow sehr romantisch traditionell, vielleicht russisch-pessimistisch. Strawinski sprach gar von Filmmusik und nannte seinen Kollegen einen depressiven „2-Meter Miesepeter“ mit riesigen Pianistenhänden, in dessen Tiefe, Poesie und Brillanz aber die Zuhörer gerne versinken. Das Adagio des 2. Satzes wird mit dunklem Fagott eingeleitet später als anrührendes Zwiegespräch mit der Klarinette, bzw. allen Holzbläsern mit dem Klavier weitergeführt. Bei der Kadenz erreicht die temperamentvolle Pianistin mit einem Handkantenschlag von hoch oben auf die tiefe Dominante eine bemerkenswerte Dichte und Intensität der Tonsprache. Mit herrlichem Pianissimo, delikaten Übergängen und feinem Zusammenspiel blieben selbst vor dem Bildschirm keine musikalischen Wünsche offen, bis auf den einen, eines Tages wieder ein leibhaftiges Sinfoniekonzert im Großen Saal erleben zu können. Der 3. Satz, inzwischen in c-Moll, kommt dann hoch virtuos als vollgriffiges pianistisches Feuerwerk daher mit Orgelpunkt, Fugato, angedeutetem Kontrapunkt, lyrischen Inseln und großen melodischen Bögen. Nach den fetzigen Schlußakkorden gab es großen Applaus vom Orchester und mehrfache Verbeugungen vor dem digitalen Publikum, gespenstisch. Noch zwei Worte zur Pianistin: Yulianna Avdeeva studierte in Moskau, gewann u.a. 2003 den Europäischen Klavierwettbewerb in Bremen und 2010 den Internationalen Chopin Wettbewerb in Warschau. Über ihre digitalen Klavierabende erreicht sie aktuell ein großes Publikum. Die Pianistin lebt in München und spielt heute zum 3. Mal an diesem prominenten Ort in Wuppertal.  


Yulianna Avdeeva am Flügel - Screenshot Johannes Vesper - Bildrechte: Sinfonieorchester Wuppertal

Thomas Laske lädt zu Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“ ein, indem er auf die Nähe Mahlerscher Traumwelten zu Schubert hinweist. Gustav Mahler (1860-1911) begann früh zu komponieren, bereits das Klavierquartett des 16-jährigen ist ein Spiegelbild seiner Emotionen. Mit 20 Jahren dirigierte er als „fahrender Geselle“ und Kapellmeister, in Bad Hall, Laibach, Olmütz, Kassel, Prag, Leipzig und Budapest, länger an der Staatsoper Hamburg, bevor er mit knapp 40 Jahren an die Wiener Hofoper berufen wurde. In Kassel verliebte sich der 24jährige in die junge Sopranistin Johanna Richter. Sie weinten zusammen Silvester und ... „erwarteten beide stumm die Ankunft des Neuen Jahres“ schrieb er später. Kein seliges Glück, sie hatte sich sogleich von ihm getrennt. Immerhin sublimierte Gustav seine Frustration, bedichtete in „naiver und schlichter Art“ Natur, Liebe, Leid und vertonte seine Gedichte zunächst für Singstimme und Klavier. Zehn Jahre folgte die Orchesterfassung, nachdem er Themen der Lieder für seine 1. Sinfonie benutzt hatte. Man spielte hier eine Kammermusikfassung von Eberhard Kloke. Diese Herz-Schmerz-Hymne für unglückliche Verliebte berührt, wenn Thomas Laske von „glühendem Messer in der Brust, oh weh, von blondem Haar“ und „zwei himmlisch-blauen Augen“, vom Glück und zuletzt vom Abschied unterm Lindenbaum singt. Bei stets transparentem, subtilem Orchesterklang erreicht sein voluminöser, warmer emotionaler Bariton mit makellosen Registerübergängen den Zuhörer auch digital. Zu Recht wieder großer Applaus.
 
Zuletzt endlich lud Maestra Julia Jones zur 3. Sinfonie Franz Schuberts (1797-1828) ein. 18 Jahre war er alt, als er dieses unbeschwerte Werk voll jugendlicher Lebensfreude komponierte. Aufgeführt wurde die Sinfonie erst 1861 und noch später (1884) publiziert. Schubertsche Melancholie findet sich in diesem Werk nicht, ein Adagio nur in der Einleitung. Interessant beim digitalen Konzertformat, daß man die Dirigentin frontal beobachten und ihr Charisma nachempfinden kann. Das flotte Jugendwerk, stark von Rossini beeinflußt, ging mit der in solch affenartigem Tempo heiklen Schlußtarantella (Presto-Vivace) würdig zu Ende. Wieder Gespensterapplaus. Mit Konzerten wie diesem kann es gelingen, daß Publikum - 200 Eintrittskarten wurden für den 03.04.21 verkauft - bei der Stange zu halten
 
Nachtrag: Beim Streaming kann, bevor alle Daten auf das Endgerät vollständig übertragen wurden, bereits während der Übertragung das zuvor Aufgenommene angesehen und angehört werden. Das Wort kommt aus dem Englischen, bedeutet ursprünglich „strömen“, steht inzwischen aber auch im Duden.
 
Lieb und Leid und Welt und Traum
Sergei Rachmaninow – Klavierkonzert Nr. 2 c-Moll op. 18,
Gustav Mahler – ›Lieder eines fahrenden Gesellen‹
Franz Schubert – Sinfonie Nr. 3 D-Dur
Sinfoniekonzert als Stream von zu Hause aus. Samstag 3. April 2021, 19:30 Uhr, Konzertstream, Samstag 10. April 2021, 19:30 Uhr, Konzertstream.
Der Stream ist jeweils für 22 Stunden als Video-on-Demand verfügbar und mit dem erworbenen, personalisierten Zugang innerhalb eines 22-stündigen Zeitfensters abrufbar.
Yulianna Avdeeva, Klavier - Thomas Laske, Bariton - Sinfonieorchester Wuppertal (Julia Jones, Dirigentin)