Wir sind alle verrückt hier - Ein neuer Zugang zu Alice

Peter Hunt – „Die Erfindung von Alice im Wunderland“

von Sabine Kaufmann

Wir sind alle verrückt hier
 
Ein neuer Zugang zu Alice
 
Man muß kein Kind sein, um die völlig verrückte Geschichte von „Alice im Wunderland“ zu lieben, mehr noch, zieht man als Erwachsener doch durchaus noch mehr Genuß aus dem 1865, also vor 156 Jahren zum ersten Mal veröffentlichten Buch von Lewis Carroll, der eigentlich Charles Dodgson (1832-1898) hieß und Mathematikdozent in Oxford war. Er hatte es ursprünglich für Alice Liddell, eine Tochter die Tochter des Dekans von Christ Church handgeschrieben und selber illustriert, um es ihr zu Weihnachten zu schenken. Es wurde nach nur ganz kurzem Anlauf mit den neuen kongenialen Illustrationen von John Tenniel zum vielleicht bekanntesten und beliebtesten Kinderbuch der Literaturgeschichte – sieht man mal von Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“ ab, der 1845, also 20 Jahre zuvor, die Bilderbuch-Literatur revolutionierte und allen pädagogischen Anfeindungen zum Trotz bis heute zu den  Kronen des deutschen Kinderbuch-Schaffens zählt.
 
Ich erwähne den Struwwelpeter nicht ohne Grund, denn Peter Hunt, der sich eingehend mit den literarischen Hintergründen der Alice im Wunderland beschäftigt hat, erwähnt in der Vorgeschichte auch die scharf moralisierende Moritat des deutschen Kinderarztes. Ähnliches gab es auch auf dem englischen Buchmarkt – und Charles Dodgson schrieb mit seiner Alice und später mit der Folgegeschichte „Alice hinter den Spiegeln“ gegen genau diese Moralinsäure an. Beide Bücher erschienen 1871, vor 150 Jahren in einer Gesamtausgabe. „Seine störrische fiktionale Alice, die das Banner der unabhängigen Kindheit durch eine Welt trägt, die von verrückten Erwachsenen bewohnt wird, die ihre eigenen Regeln und Emotionen kaum verstehen, ist für Kinder wie Erwachsene gleichermaßen faszinierend“, schreibt Peter Hunt zutreffend in seiner Untersuchung. Die Figuren, die Dogson/Carroll für Alice im Wunderland geschaffen hat sprechen dafür: das weiße Kaninchen mit Taschenuhr, die Cheshire Katze, die mystische Raupe, der Märzhase, der verrückte Hutmacher, Diedeldum & Diedeldei und viele andere.
 

Manuskript von Alice im Wunderland, Kapitel 1

Hunts tief gehende Analyse von Alice´ Wurzeln, ein ungemein interessantes und spannendes Buch, ist allerdings den Lesern im Erwachsenenalter vorbehalten. Selten findet man eine so belesene und zugleich unterhaltsame literarische Untersuchung zu einem Stoff, den alle zu kennen glauben – aber die kaum jemand, lernt man hier, wirklich kennt. Was wohl auch auf die Neigungen und die

Alice Pleasance Liddell 1858 - Foto: Lewis Carroll
Psyche des Verfassers zutrifft, der sich ab 1856 zu einem begabten Fotografen ausbildete. Carroll war von jungen Mädchen im Kindesalter fasziniert, so stand auch Alice Lidell häufig Model für Dodgsons Fotografien. Die damals 7jährige Alice war unter ihren Schwestern seine klare Favoritin und wurde die Heldin seiner Geschichten, und wer leugnen sollte, daß er zumindest später in sie verliebt war, würde sich etwas vormachen. Man weiß, daß ihm, als sie 11 Jahre alt war, der Umgang mit ihr untersagt wurde und daß sowohl seine Tagebuchaufzeichnungen der Zeit davor und seine Brief an das Kind von den Familien beider vernichtet wurden. Die erhalten gebliebenen Gedichte und Verse lassen kaum Fragen offen. Seine Neigung zu ganz jungen Mädchen als Modelle für seine Fotografie blieb, ist belegt und endete abrupt 1880.
 
Peter Hunt schlüsselt in seinem Buch mögliche mathematische Zahlenspielereien auf, untersucht alle nur denkbaren zeitgenössischen literarischen Quellen und Anstöße, die Dodgson die Richtung für sein zauberhaftes Buch gezeigt haben mögen, beleuchtet sein soziales Umfeld über seine Lebensspanne und wirft einen genauen Blick auf die Zeichner der Geschichte, natürlich besonders John Tenniel. Mit zahlreichen brillanten Illustrationen und vielen historischen Fotografien unterfüttert Hunt dieses gelungene Referenzwerk, das unser Prädikat erhält, den Musenkuß. Sehr zu empfehlen.
 
Peter Hunt – „Die Erfindung von Alice im Wunderland“
(Wir sind alle verrückt hier: 150 Jahre Alice im Wunderland)
Aus dem Englischen von Gisella M. Vorderobermeier
© 2021 wbg Theiss, 128 Seiten, gebunden, 21,5 x 27,5 cm, zahlreiche Illustrationen, Literaturhinweise, Register - ISBN: 978-3-8062-4264-5
28,- €  (22,40 € für Mitglieder)
 
Weitere Informationen:  https://www.wbg-wissenverbindet.de/