Der Kapellmeister

von Anton Kuh

Anton Kuh - Emil Orlik pinx.
Der Kapellmeister
 
Wenn sie alle vollzählig versammelt sind und sich mit ihren quäkenden, quiekenden, kratzenden, brummenden Instrumenten genug boshaften Schabernack angetan haben, steigt schleunigen Schrittes ein Herr hinauf und bereitet dem Unfug momentan ein Ende. Das ist der Kapellmeister.
     Er hält in der rechten Hand einen Stab.
Sein Gesicht ist leidvoll, bekümmert, aufs Äußerste gefaßt. Er verrät auf den ersten Blick den Freund der Ruhe und des instrumentalen Stillschweigens, die Angst vor der unvorhergesehenen Verletzung, die die Atmosphäre durch einen Violinenstrich oder Trommelschlag oder einen Fauxpas der Bässe erleiden könnte. Aber es nützt ihm nichts! Der Vorsatz von hundert Mann, die Ruhe gerade in dem Augenblick zu stören, wo sie aufs Peinlichste hergestellt scheint, ist stärker als er. Da, richtig! - die Primgeige setzt ein...
Er beschwört sie mit der linken Hand: „Pst - kein Lärm - ich kann es nicht vertragen!“ Vergebens! Schon eilen ihr Mann für Mann, die übrigen Streich-Streiter zu Hilfe, er muß kategorisch den Stab über sie senken, vorgebeugt und nach dem Allerletzten weit hinten langend, der offenbar an dem ganzen Wirbel schuld ist.
     Aber jetzt geht es erst tapfer los.
Eine Flöte, bisher brav verborgen, mischt sich drein. Der Kapellmeister eilt ihr voll Besorgnis entgegen: „Um Gottes willen, nur jetzt nicht - in diesem Augenblick!“
     Eine Bratsche beginnt. Ein Ruck seines Körpers dahin, die Linke greift weit vor in den Raum, drückt die Luft nieder, da es ihr nicht mit dem Bratschisten selbst gelingt. O Gott, nun beginnt auch noch die Oboe zu faseln! Der Kapellmeister legt beschwörend den Finger auf den Mund: „Nicht, ich beschwöre Sie, Ich kann eine Oboe nicht hören. Der Arzt - “
Aber in diesem Augenblick lassen ihn die Posaunen zurückprallen, er verliert beinah kopfüber das Gleichgewicht und drängt den Ansturm mit beiden Händen gleichzeitig zurück.
     Er hat eine Idiosynkrasie gegen Musik offenbar. Er haßt jedes instrumentale Geräusch und möchte davor bis ans Ende der Welt fliehen. Und immer müssen die Töne zur Unzeit sein Ohr treffen, gerade in der Tausendstelsekunde, die so geeignet dafür erschienen, den Einsatz zu verpassen!
     Der Unglückliche! Nun weint das Cello, und der Versuch, es durch fassungsloses Finger-an-den-Mund-Legen (er küsßt sich voll Zärtlichkeit dabei den Nagel) einzulullen, erzielt die gegenteilige Wirkung: Die leise Wehklage wird zum Plärren verstärkt, gleich dem Sang eines Wahnsinnigen hinter Zellengittern. Ein Achselwurf hinüber! - das Waldhorn dröhnt. Der Kapellmeister hält diktatorisch die flache Hand vor, ihm Schweigen gebietend. Und immer, wenn er gerade dem einen Instrument den milden Strafsermon der Hände hält, seine Beruhigung gütlich erzwingen will, reißt ihn von der Gegenseite ein anderes zu sich. Oh - alles macht ihn nervös!
Die Flöte, die er zu abendlicher Schwermut so gern erklingen hört, sie tönt ihm wie das Geräusch eines über Barchent fahrenden Nagels!
     Jeder Ton der Klarinette - ein Ritsch-Ratsch des Griffels auf der Schiefertafel! Es bleibt ihm nichts übrig, als nach vorn und dann nach rückwärts, mit beiden Händen gleichzeitig, jetzt dem Fagott entgegen, jetzt linkerhand zur Viola zu bitten, betteln, winseln, flehen, der vorwitzigen Harfe abzuwinken: „ch brauch dich nicht - bleib drüben!“, den Streichern, mit dem Gesäß einknickend und aufwippend, zuzudonnern: „Schluß! Punkt! Aus“, gerade aber in diesem Augenblick nach der Tuba herüberzufahren mit einem entsetzten: „Die auch noch?“, bis er, stundenlang so hin- und hergeworfen, widerstandslos gegen die Brandung der gegen ihn verschworenen Instrumente, naß wie ein ausgewundener Fetzen, zurücksinkt - drei Akte „Tristan“ meisterhaft dirigiert, sind zu Ende.
 

Anton Kuh

aus: Das literarische Orchester - Geschichten und Gedichte, 2021 Reclam Verlag