Vivi con una mira

Edward Gorey - „Der traurige Zwölfpfünder oder Die blaue Spieke“

von Frank Becker

Vivi con una mira
 
Jasper Ankles Bestimmung
 
Edward Goreys (1925-2000) Bücher sind kryptisch. Immer. Angelegentlich seiner Diogenes-Veröffentlichungen von „Ein fragwürdiger Gast“, „Eine Harfe ohne Saiten“ und „Das kleine ABC vom Unglück“ sowie zu anderen Gelegenheiten haben wir darüber berichtet. Nun ist – wieder bei Diogenes – in einer wahrhaft bild-schönen Ausgabe 46 Jahre nach der ersten Diogenes-Auflage von 1975 seine mysteriöse Geschichte „Der traurige Zwölfpfünder oder Die blaue Spieke“ erneut erschienen.
 „Immer bleiben bei Gorey alle Fragen offen“, schrieb einmal Joachim Klinger, „die tiefgründigen und die nebensächlichen.“ Hier ist es einmal anders, sieht man vom rätselhaften  Titel ab. Denn da wird es (s.o.) schon wieder kryptisch, stellt sich doch die Frage, wie um der Düsternis willen Gerd Haffmans auf diese Übersetzung des amerikanischen Originaltitels „The blue aspic“ gekommen ist…
 
Es ist die zutiefst schwarzhumorige Moritat um das schreckliche Schicksal des Buchhalters und Opernliebhabers Jasper Ankle, der sein Leben ganz und gar der Sängerin Ortenzia Caviglia und seiner hoffnungslosen tiefen Liebe zu ihr gewidmet hat. Für die Caviglia wird Jasper zum Serienmörder, für sie ruiniert er seine Gesundheit, um Stunden in Regen und Schnee, Sturm und Kälte für eine Eintrittskarte ihrer Vorstellungen anzustehen, um ihretwillen verliert er seine Stellung und seine Wohnung, sein Grammophon und seine Plattensammlung gehen zu Bruch. Jasper schreibt unbeantwortete Briefe an die Verehrte, verzehrt sich, versinkt folgerichtig in Umnachtung – bis ihn der Wahn zu einer noch schrecklicheren Tat treibt.
Und da wird es doch wieder kryptisch, erinnern seine letzten Worte „J´ai trové Hortense!“ doch an das rätselhafte „Rosebud“ (natürlich nicht für uns Eingeweihte) des Citizen Kane. Dann ist Schluß, aber genau jetzt wird es interessant, möchte man doch die Geschichte hinter der Geschichte erfahren. Gibt Gorey doch mit den Namen Ankle und Caviglia gewissermaßen den Wink mit dem Zaunpfahl und offenbart die Transformation von Ortzenzia zu Hortense die Nähe des Verzweifelten zur schönen Sängerin.
 
Die düsteren, genialischen Federzeichnungen oder besser: Szenenbilder Edward Goreys zu Jasper Ankles Bestimmung und Schicksal rühren selbst den härtest gesottenen Betrachter, wenn das Drama entlang der Schnur dunkler Prophezeiungen aus Arien und Opern-Titeln seinen grausamen, unaufhaltsamen Lauf nimmt. Wer da nicht mit Jasper friert, nicht mit ihm leidet, nicht den Rand zum Wahn fühlt, fühlt wohl auch sonst nichts. Wieder eine Köstlichkeit aus Edward Goreys Giftschrank. Friede seiner Asche!
 
Edward Gorey - „Der traurige Zwölfpfünder oder Die blaue Spieke“
Aus dem Amerikanischen von Gerd Haffmans
© 2021 Diogenes Verlag, 72 nn Seiten, gebunden, Fadenheftung, 17,5 × 20,5 cm – ISBN: 978-3-257-02177-6
18,- € (D) / 24,- sFr / 18,50 € (A)
 
Weitere Informationen; www.diogenes.ch