Es geht ein Riß durch die Kirche

Der Theologe Michael Böhnke über die Meinungsfreiheit in der Katholischen Kirche

von Uwe Blass

Michael Böhnke - Foto: privat

Wissenschaftliche Forschung und Entwicklung, der Erkenntnisgewinn und das neu generierte Wissen sind kein Selbstzweck, sondern dienen der Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Eine zentrale Bedeutung hat dabei der Transfer der Ergebnisse in die Öffentlichkeit, Wirtschaft, Politik und sozialen Institutionen. Mit den „Bergischen Transfergeschichten“ zeigt die Bergische Universität beispielhaft, wie sich Forscherinnen und Forscher mit ihrer Arbeit in die Region einbringen, mit anderen Partnern vernetzen und die Gesellschaft so aktiv mitgestalten.
 
Es geht ein Riß durch die Kirche

Der Theologe Michael Böhnke über die Meinungsfreiheit in der Katholischen Kirche
 
„Eine Grundsatzbemerkung vorweg; Studium, Forschung und Lehre bilden für mich eine Einheit“, sagt Michael Böhnke, Professor für Systematische Theologie in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften. Daher finden aktuelle Themen auch immer Niederschlag in seinen Lehrveranstaltungen. „Die Diskussion der Menschenrechte in meinen Lehrveranstaltungen wird von vielen Studierenden als relativ befreiend erfahren, weil sie offen reden können. Das ist mir jetzt noch einmal im Wintersemester durch zahlreiche Rückmeldungen bestätigt worden.“  Zu den Lehrinhalten zweier Hauptseminare gehörten die Geschichte der Menschenrechte und der Menschenrechtserklärungen seit dem 5. Jahrhundert vor Christus bis heute ebenso, wie der geschichtliche Wandel, der die Stellungnahmen der Päpste zu den Menschenrechten in den vergangenen beiden Jahrhunderten prägte. Böhnke möchte die Grundlagen verstanden wissen, auf denen eine kritische Meinungsbildung erst möglich ist. Von der Verurteilung im 19. Jahrhundert in der sogenannten Syllabus errorum, einer Auflistung von 80 „Irrtümern“ der Moderne, in der Papst Pius IX. am 8. Dezember 1864 nahezu alles ablehnte, was damals als modern galt, nämlich Liberalismus, Rationalismus und Menschenrechte, bis zur Zustimmung durch Johannes XXIII. und seinen Nachfolgern. „Da hat es einen radikalen Wandel gegeben“, erklärt der Wissenschaftler. „Ich glaube, für die Kommunikation des Evangeliums ist es unerläßlich, diese Entwicklungen zu kennen, auf wissenschaftlicher Grundlage die Begründung der Menschenrechte und die aktuelle Menschenrechtspraxis der Kirche kritisch zu erforschen und zu diskutieren, um sich ein eigenes Urteil zu bilden; etwa in Fragen der Genderproblematik oder auch der Kinderrechte.“
 
Die Kommunikation des Evangeliums kritisch begleiten
 
Der Dogmatiker Böhnke leitet die Fachgruppe Systematische Theologie in der Katholischen Theologie der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften an der Bergischen Universität in Wuppertal. Zu den Inhalten seines Lehrstuhls gehören die Religionsphilosophie, die Fundamentaltheologie, die Dogmatik, die theologische Ethik sowie die christlichen Sozialwissenschaften und manchmal auch noch das Kirchenrecht. Dabei ist die Systematische Theologie eine von vier Disziplingruppen innerhalb der Katholischen Theologie. Zu den weiteren drei gehören dann noch die Biblische, Historische und die Praktische Theologie. „Systematische Theologie ist, und das mag verwundern, eine praktische Wissenschaft“ erklärt der gebürtige Ratinger. „Untersuchungsgegenstand von Fundamentaltheologie und Dogmatik ist die Praxis des christlichen Glaubens. Systematisch arbeitende Theologen studieren und erforschen diese Praxis, die von der Kirche, was die Inhalte angeht, einerseits normiert ist, aber andererseits auch von dem Glaubensakt der Einzelnen geprägt wird.“ Damit wolle er mit seinen Studierenden, einem Zitat des Dietrich-Bonhoeffernachfolgers Ernst Lange folgend `die Kommunikation des Evangeliums´ kritisch begleiten. „Wir wollen ihr zuverlässige Wege eröffnen und wollen natürlich auf wissenschaftlicher Grundlage der christlichen Glaubenspraxis neue Möglichkeiten der Verständigung über sich selbst zuspielen.“ Im Vorwort seines gerade erschienenen neuen Buches `Geistbewegte Gottesrede` macht er das auch noch einmal deutlich.
 
Der universale Anspruch der Menschenrechte
 
2017 organisiert Böhnke mit anderen Akteuren ein internationales Fachgespräch zum Thema „Menschenrechte in der Katholischen Kirche“ im Deutschen Historischen Institut in Rom, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). „Der universale Anspruch der Menschenrechte, überall und uneingeschränkt gelten zu wollen“, sagt er, „stellte dabei eine Herausforderung an die Ekklesiologie, an die Lehre der Kirche, die auch das Katholische Kirchenrecht betrifft, dar. Zwar setzt sich die Kirche und setzen sich innerkirchliche Gruppierungen wie etwa Misereor oder Adveniat oft mit Nachdruck für die Achtung und Durchsetzung der Menschenrechte z.B. in Flüchtlingsfragen ein“, fährt er fort, „aber das Kirchenrecht selbst trägt bis heute nur sehr eingeschränkt zur Anerkennung und Durchsetzung der Menschenrechte bei. Und hier sehe ich einen großen Nachholbedarf. Die Menschenrechte müßten genauso wie das staatliche Recht, das kirchliche Recht fundieren“, denn sie fungieren gleichermaßen als Grundlage für staatliches Recht und Kirchenrecht.
 
Die Katholische Kirche hat ein Demokratiedefizit
 
Ein Widerspruch an sich scheint die Tatsache zu sein, daß die Katholische Kirche gerade in Ländern Lateinamerikas sowohl Diktaturen unterstützt als auch die Menschenrechte verteidigt. „Aus menschenrechtlicher Perspektive würde ich sagen, hat die Katholische Kirche sicher ein Demokratiedefizit. Das Thema Gewaltenteilung, daß für ein friedliches Zusammenleben der Menschen doch so wichtig ist, wird bislang theologisch kaum adäquat wissenschaftlich bearbeitet. Das sehen wir auch an der Kirche hier in Deutschland.“ Hier müsse der theologische Diskurs den Päpsten und dem kirchlichen Lehramt Wege aufzeigen, die aus diesen Ambivalenzen herausführen, meint Böhnke. „Diese Ambivalenzen sind u.a. dadurch bedingt, daß Papst Johannes Paul II. sich dem Kampf gegen den Kommunismus verpflichtet fühlte. In Polen waren es die Herrschenden, gegen die er gekämpft hat. Dabei hat er sich auf die Menschenrechte berufen. Aber in Südamerika waren es eben nicht die Herrschenden, sondern die Anhänger der theologischen Basisbewegung der Theologie der Befreiung, die selbst für die Durchsetzung der Menschenrechte gekämpft haben“, sagt er und das sei seines Erachtens durch Johannes Paul II. nicht gewürdigt worden. „Im Aufbau einer friedlichen Gesellschaft, das ist ja das Verrückte, liegt ja eigentlich ein gemeinschaftliches Ziel von Kirchen- und Menschenrechten.“
 
Ohne Freiheit gibt es keinen Frieden
 
Innerkirchliche Konflikte mit Rom gibt es zuhauf. Allein in der Presse- und Meinungsfreiheit liegen die Standpunkte weit auseinander. Bei den Studierenden fällt Böhnke auf, daß die Freiheitsrechte nicht im Vordergrund stehen. „Gleichheitsrechte, wie Genderfragen und Fragen der Inklusion etc. bestimmen den öffentlichen Diskurs und bestimmen das Bewußtsein unserer Studentinnen. An das Thema Freiheit muß man die Mehrzahl der Studierenden erst heranführen.“ Daher wundere es ihn auch nicht, daß es der Populismus, vor allem durch Donald Trump geschürt, mit der Verunglimpfung der Presse so leicht hatte, und auch die Kirche tue sich schwer mit Meinungsfreiheit und Pressefreiheit. „Manchmal habe ich den Eindruck, das betrifft jetzt staatliches wie auch kirchliches Handeln, daß in Bezug auf die Freiheitsrechte, das Rad der Geschichte mit Macht von den Mächtigen zurückgedrängt werden soll. Mir fällt es gleichzeitig schwer, Kirche auch als Anwältin der Freiheitsrechte anzusehen, obwohl sie das von ihrer Grundbotschaft her sein will.“ Gott habe sich nämlich in Jesus Christus aus freiem Entschluß dazu bestimmt, nicht ohne die Menschen Gott sein zu wollen. Und damit habe er auf die Freiheit der Menschen gesetzt. „Von daher müßte die Kirche Anwältin der Freiheit sein. Und ohne Freiheit gibt es keinen Frieden“, sagt Böhnke bestimmt.
 
Die Wertschätzung der Geschlechter
 
In der Genderdebatte forderte unlängst der Essener Weihbischof Ludger Schepers eine `in Sprechen und Handeln ablesbare Wertschätzung der Geschlechter. ´ Die Kirche wolle `auf allen Ebenen geschlechtersensibel handeln. ´ „Ob die Kirche das will“, grübelt Böhnke, „weiß ich nicht.“ Bei der römischen Menschenrechtsfachtagung sprachen Wissenschaftler gar von einer katholischen Anti-Genderstrategie oder zogen die freie Wahl des Lebensstandes in Zweifel. „Die Frage der Eheschließung gleichgeschlechtlicher Paare muß dabei ebenso bedacht werden wie die Frage des Zugangs zu kirchlichen Weiheämtern. Bisher ist in der katholischen Kirche weder eine Segnung gleichgeschlechtlicher Paare, noch eine Weihe von Frauen oder Personen, die divers sind, zu Diakonen, Bischöfen oder Priestern möglich. Und ich glaube, hier fehlt es an einer Reflexion auf die Personenwürde des Menschen, die unabhängig von Geschlecht, Rasse oder sexueller Orientierung hinzukommt.“  Dabei könne nach Böhnke etwa auf Immanuel Kants Metaphysik der Sitten zurückgegriffen werden, denn die Personenwürde komme eben den Menschen ungeachtet ihres Geschlechts etc. zu, weil der Mensch als moralisches Wesen, dem ein unbedingter Wert zukommt, anzusehen und anzuerkennen sei. Der Blick auf die Person sei wichtig, und das gelte auch für Jesus Christus, den die Kirche als Person verehre, durch die und in der Gott Mensch geworden sei, argumentiert der Theologe und schlußfolgert: „In Bezug auf die Amtsfrage, hätte die Kirche zu diskutieren, ob nicht unter dem Aspekt des Personseins und der Personenwürde, Frauen die Person Jesu Christi ebenso in ihrem Handeln darstellen können wie die Männer.
 
Macht und Deutungshoheit im Erzbistum Köln
 
Wenn über Menschenrechte in der Katholischen Kirche gesprochen wird, kommt man auch unwillkürlich auf das Thema Homosexualität und Mißbrauch. Kardinal Woelki hält ein von ihm in Auftrag gegebenes Gutachten der Kanzlei Westphal Spilker Wastl zum sexuellen Mißbrauch im Erzbistum Köln zurück und gab ein neues Gutachten in Auftrag. Dafür wurde er scharf kritisiert. Kann eine Aufklärung von Fehlverhalten in der Katholischen Kirche demnach nur nach einseitigen Bedingungen erfolgen? Böhnke verfolgt den öffentlichen Diskurs sehr genau und stellt bei seinen Studierenden in diesem Zusammenhang eine starke Verunsicherung fest. „Wir haben daher im vergangenen Semester zusammen mit der Katholischen Hochschulgemeinde zwei Gesprächsabende durchgeführt, die eine sehr starke Resonanz gefunden haben“, erzählt Böhnke, weil die Studierenden Angst hätten. In den öffentlichen Diskursen der letzten Tage gehe es um die Frage von Macht und von Deutungshoheit, und wer schon einmal mit Kommunikationsagenturen zusammengearbeitet habe, wisse, wie professionell da vorgegangen werde. „Für mich persönlich ist es wichtiger, so zu sprechen, daß ich möglichen Opfern sexualisierten Mißbrauchs signalisieren kann, sie finden Gehör und sie finden auch eine anwaltliche Stimme. Es ist für mich wichtiger, zum Angstabbau unter den Studierenden beizutragen.“ Zur aktuellen, politischen Dimension sagt er: „Von einer unabhängigen kriminologischen, juristischen und geschichtlichen wie auch theologischen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kirche sind wir im Erzbistum Köln meines Erachtens meilenweit entfernt.“
 
Verliert die Kirche den Kontakt zu den Gläubigen?
 
Ganz aktuell liest man in den Medien Titel wie `Köln stockt Termine für Kirchenaustritte auf´ und namhafte Historiker sehen die Katholische Kirche in absehbarer Zeit gar in ihrer Existenz bedroht. Da kommt schnell die Frage auf, ob die Kirche den Kontakt zu ihren Gläubigen verlieren könnte. Dazu Böhnke: „Die Kölner Kirchenleitung erweckt manchmal den Eindruck, als habe sie den Kontakt bereits verloren. Kirchenaustritte sind das eine Thema. Wir sind ja an einer Universität, in der sich über 400 Studierende darauf vorbereiten, als Lehrer bzw. Lehrerinnen in öffentlichen Schulen auch das Fach Katholische Religionslehre zu unterrichten. Und viele Studenten fragen zurzeit: Habe ich das falsche Fach gewählt?“ Es gehe nicht nur um einen Verlust an Kirchenmitgliedern, sondern es gehe ein Stück weit um die Zukunft der Kirche, und das sei auch schon vor den Mißbrauchsvorwürfen zu beobachten gewesen. „Die Amtskirche erreicht immer weniger Menschen“, betont der Forscher, „es waren zunächst die am Rand Stehenden, die man nicht mehr erreicht hat und dann hat man auch schon unter Papst Benedikt XVI. die eigene Kerngemeinde nicht mehr erreicht. Es gab so etwas wie die Rede von einem vertikalen Schisma, zwischen oben und unten und das hat sich ein Stück weit noch verstärkt, weil die Kölner Bistumsleitung sich auch schon von einem Teil ihrer Pfarrer und Priester verabschiedet hat. Da geht es nicht nur um Mitgliederzahlen. Da geht es darum, daß durch die Kirche ein Riss geht, der unabsehbare Folgen haben könnte.“
 
Menschenrechte sollten im Einsatz der Kirche für die Zukunft der Menschheit eine entscheidendere Rolle spielen
 
Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Hans Maier haben die Menschenrechte im 20. und 21. Jahrhundert die Kirche zwar erreicht, aber er bezweifelt auch, ob sie wirklich in ihr Inneres vorgedrungen seien. „Hans Meier ist ja nicht nur Politikwissenschaftler. Er ist ja auch Politiker, war lange Zeit Minister in München bis er sich mit Franz Joseph Strauß überworfen hat und ist auch lange Zeit Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, also der obersten Laienvertretung im deutschen Katholizismus, gewesen“, erklärt Böhnke, „und Hans Maier hat sich schon in den 60er Jahren mit der Frage der Menschenrechte in der Kirche befasst. Er überblickt also die Entwicklung sowohl als Wissenschaftler als auch als verantwortlicher Politiker. Ich schätze sein Urteil und seine sehr klare Sprache und ich glaube, daß er einfach recht hat mit dem, was er da gesagt hat.“ Gleichzeitig dürfe man nicht unterschätzen, daß die Kirche in den vergangenen Jahrzehnten nicht unerheblich vom politisch geführten Menschenrechtsdiskurs profitiert habe. „Also ohne Helsinki (Die Internationale Helsinki-Föderation für Menschenrechte (IFH) war eine internationale Nichtregierungsorganisation, die von 1982 bis 2007 bestand und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Achtung der Menschenrechte in den Staaten der OSZE zu schützen. Ihr gehörten 46 nationale Organisationen an, ihr Sitz war in Wien – Anm. d. Red.) hätte auch Johannes Paul II. nicht den Menschenrechtsdiskurs nach Osteuropa tragen können. Die Menschenrechte waren ein entscheidender Bezugspunkt für ihn zu Beginn seines Pontifikats im Kampf gegen den Kommunismus in seinem Heimatland Polen.“ Sie sollten, und das fordere Franziskus heute immer wieder ein, im kirchlich geförderten Nord-Süd-Dialog eine entscheidendere Rolle und nach Böhnkes Meinung ebenso im Einsatz der Kirche für die Zukunft der Menschheit eine entscheidendere Rolle spielen. Das beträfe sowohl eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung, als auch ökologische Fragen. „Für beides müßte die Kirche auch in ihrem Inneren etwas mehr Reformbereitschaft zeigen.“ 
Immerhin, einen ersten Ansatz zu einer solchen Reformbereitschaft sieht der Theologe bereits durch eine bemerkenswerte Kirchenentscheidung umgesetzt: Papst Franziskus hat die kirchliche Lehre hinsichtlich der Todesstrafe aufgrund des Menschenrechtsdiskurses geändert.
 
Uwe Blass
 
Michael Böhnke studierte Katholische Theologie, Philosophie und Neuere Geschichte an den Universitäten in Bonn und Tübingen. 1983 promovierte er an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Bonn. Nach Tätigkeiten in Trier und Aachen habilitierte er sich 2000 in Münster. Seit 2004 ist er Universitätsprofessor für Katholische Theologie: Systematische Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal.