„Ihr wisset, daß in zween Tagen Ostern wird“

Von den Datierungen der Feste und Festzeiten

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Ihr wisset, daß in zween Tagen Ostern wird“
 
Von den Datierungen der Feste und Festzeiten
 
Von Heinz Rölleke
 
Mit den ersten Worten Christi nach dem Eingangschor beginnt die „Matthäus-Passion“ von Johann Sebastian Bach im Wortlaut des Evangeliums, mit dem den Aposteln die Kreuzigung verkündet wird (Matth. 26.2). Christus spricht vom jüdischen Passah-Fest, das immer am 14. des Monats Nisan gefeiert wird gemäß 2. Mose 12.1-3: „Der Herr aber sprach zu Mose […] am zehnten Tag dieses Monats  nehme ein jeglicher ein Lamm [...]“ - so wird seit fast 3.500 Jahren der Auszug aus Ägpten gefeiert, der die Juden nach 40-jähriger Wanderung durch die Wüste ins ihnen verheißene Gelobte Land führte. Die ersten Christen errechneten den Tag der Auferstehung Christi in Anlehnung an diese beiden Bibelstellen. Als Datum wurde ein Sonntag in der Woche des jüdischen Passahfesttermins bestimmt. Mit den auf die Bibel bezogenen Zahlen aller Arten nahm man es immer äußerst genau, denn Gott hatte ja „alles nach Maß und Zahl geordnet“ (Liber Sapientiae / Buch der Weisheit 11.21) – und dem suchte man genauestens zu entsprechen. Nachdem Paulus in seinen Briefen der Auferstehung Christi die zentrale Position im Heilsplan Gottes zugewiesen hatte, entstand um das genaue Datum des Osterfestes schon im 2. Jahrhundert ein Streit, der erst im Jahr 325 auf dem Konzil von Nicaea vorläufig geschlichtet wurde: Ostern sei immer am Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond zu feiern. Endgültig wurde dieser Termin für die römisch-katholische Kirche erst 1582 durch die Kalenderreform des Papstes Gregor XIII. (seit Nicaea waren die Kirche und speziell der Papst  für die liturgischen Daten verantwortlich) festgelegt, wodurch sich allerdings seitdem Divergenzen mit dem orthodoxen Kalender der orthodoxen Christen ergaben, die bis heute bestehen.
 
Nach der endlich gefundenen Terminierung des Osterfestes richtete sich das ganze Kirchenjahr  - zum Teil unter Berufung auf einige biblische Zahlen - nach diesem beweglichen Datum. Die Apostelgeschichte berichtet, Christus habe sich nach der Auferstehung und bis zu seiner Himmelfahrt vor seinen Jüngern sehen lassen „40 Tage lang“ (Apg. 1.3). Christus hat mehrfach angedeutet, daß er nach seiner Aufnahme in den Himmel den Heiligen Geist senden werde. Also wurde das Fest der Himmelfahrt für den 40. Tag nach Ostern (immer ein Donnerstag) festgesetzt. Das Pfingsfest folgt entsprechend seiner griechischen Bezeichnung πεντεκοστὴ (PENTEKOSTAE) und nach dem Datum des jüdischen Schawuot-Festes genau 50 Tage nach Ostern (wie dieser Festtag immer ein Sonntag). Mit der Himmelfahrt Jesu am 40. Tag beginnt sich seine Verheißung der Geistaussendung (vgl. Joel 3.1-5; Apg. 2.16) zu realisieren, die am 50. Tag erfolgt. Und hier ist nun ein wahres Zahlenwunder zu bestaunen: In der Himmelfahrt (am 40. Tag nach Ostern) ist die Verheißung des Pfingstgeistes (zum 50. Tag nach Ostern) verborgen. Die Addition der Teiler der Zahl 40 ergibt 50: 1+2+4+5+8+10+20. Die Pfingstzahl 50 ist in den Elementen der Himmelfahrtszahl 40 enthalten!
 
Der Pfingstsonntag gilt als Gründungstag der christlichen Kirche, so daß von diesem Festtag aus die weiteren 24 Sonntage des Kirchenjahres bis zur Woche vor dem 1. Adventssonntag gezählt werden. Die Adventszeit ist mit ihren vier Sonntagen auf das festliegende Datum Weihnachten (25. Dezember) bezogen, kann aber aufgrund des beweglichen Datums des 1. Adventssonntags zwischen dem 27. November und dem 3. Dezember beginnen. Im Gegensatz zur mit 40 Tagen festgelegten vorösterlichen Fastenzeit schwankt die Dauer der adventlichen Bußzeit zwischen 22 und 28 Tagen.
 
Auch die traditionelle Dauer von 40 Tagen bestimmter Fastenperioden (neben der am Aschermittwoch beginnenden österlichen Bußzeit gab es verschiedene Termine des Advents- oder Weihnachtsfastens, die an den Namenstagen des Heiligen Martin  - 11. November -  oder der Heiligen Katharina  - 25. November -  beginnen konnten) gründet sich auf eine biblische Zahl: Christus hat vor seinem öffentlichen Auftreten „40 Tage und Nächte gefastet“ (Matth. 4.2). Über die Zahl 40 wurden auch andere Festtage definiert, indem man von der traditionellen Zählung der 40 Schwangerschaftswochen ausging. Mariä Verkündigung ist auf den 25. März datiert, 40 Wochen vor Weihnachten; Mariae Empfängnis wird am 8. Dezember gefeiert, 40 Wochen vor Mariä Geburt (8. September); die Geburtsverheißung des Täufers Johannes ist auf den 24. September datierbar, weil der Engel Gabriel der Jungfrau Maria am 25. März mitteilte, Elisabeth sei nun bereits im sechsten Monat schwanger, demnach wurde Johannes der Täufer am 25. Juni geboren (neben dem Fest Mariä Geburt der einzige Namenstag, der am Geburts- und nicht am Todestag eines Heiligen gefeiert wird). Der Festtag wird allerdings am Vortag, dem 24. Juni, wegen dessen Kongruenz zu alten Jahreszeitenunterteilungen begangen). Ähnlich verhält es sich mit dem Festtag Mariä Lichtmeß am 2. Februar, der genau 40 Tage nach dem 24. Dezember begangen wird und das Ende der Weihnachtszeit anzeigt.  Nach jüdischem Ritus durfte eine Mutter 40 Tage nach der Geburt eines Jungen wieder am öffentlichen Leben teilnehmen und den Tempel mit ihrem Erstgeborenen betreten.
 
Die in allen Kulturen eine herausgehobene Rolle spielende Zahl „40“ wurde auch mit den teilweise in den Evangelien genannten Lebensstationen Christi in Verbindung gebracht. Auf die 40 Wochen der Schwangerschaft Mariä folgt die Frist von 40 Tagen bis zur Darstellung des Kindes im Tempel; vor seinem öffentlichen Auftreten fastete Christus 40 Tage und Nächte in der Wüste; sein Wirken unter den Menschen von der Taufe im Jordan bis zum Tod am Kreuz berechnete man auf vierzig Monate (bei der Taufe sei er  -  nach Lk. 3.23  - „ungefähr dreißig Jahr alt“ gewesen; er habe drei Jahre gelehrt und sei im ersten Drittel seines 34. Lebensjahrs gestorben); als Zeit seiner Grabesruhe (von Karfreitagnachmittag bis Ostersonntagmorgen) galten 40 Stunden; zwischen Auferstehung und Himmelfahrt  liegen 40 Tage. Ein Teil dieser Berechnungen ist erkennbar eine Postfiguration der Bedeutung von 40, die  im Alten Testament mehr als ein Dutzend Mal genannt wird (unter vielen andern etwa als Zahl der Sintflut, der Tage, die Moses auf Sinai, Elias auf dem Horeb verbrachte, der Jahre des Zugs durch die Wüste). Einige dieser Zahlen wurden ins fromme Brauchtum übernommen: Zeiten des Fastens und der Geistlichen Exerzitien wurden auf 40 Tage festgelegt; während der liturgischen Feier der Grabesruhe Christi war das „Vierzigstündige Gebet“ gebräuchlich (wenn diese Andacht in die Karnevalszeit fiel, wurden die Kinder im katholischen Westfalen aufgefordert, Gebete wegen der vielen Sünden zu sprechen, die man angeblich im rheinischen Karneval begehe). Was das ohne sichere Grundlage errechnete Lebensalter Jesu betrifft, so nahm man es damit im Mittelalter äußerst genau. Gemäß einem altdeutschen Glaubensbekenntnis aus dem 11. Jahrhundert mußte nicht nur der Glaube an den einen Gott bekräftigt werden, sondern auch ein Bekenntnis zur genauen Lebenszeit Christi abgelegt werden:
 
            Ih glouba daz er getoufet uuart an demo drizigistemo iare in Jordane       
            […]. Ih glouba daz […] er nah demo sin selbes toufa in drin iaren            
            unde zuein min ahcig tagen hie in erda geuuorhta
            (Ich glaube, daß Christus im dreißigsten Lebensjahr im Jordan      
            getauft wurde. Ich glaube, daß er nach seiner Taufe drei Jahre und          
            zweiundachtzig Tage hier auf der Erde gewirkt hat)
 
Um die intendierte Lebenszeit von 33 1/3 Jahren zu errechnen, muß man das „quasi“ in der Angabe des Evangelisten Lucas („quasi annorum triginta“) außer acht lassen und zu den 30 Jahren 3 weitere und 82 Tage addieren, vor allem aber die  - verschwiegenen! -  40 Tage des Fastens Jesu vor seinem Auftreten als Heiland hinzurechnen. 82 + 40 Tage ergeben 122, das heißt genau 1/3 eines weiteren Jahres und in letzter Konsequenz, daß Jesus nach dem ersten Drittel seines 34. Lebensjahres gestorben sei, und zwar genau in der Stunde  als das erste Tagesdrittel vollendet war („Und es war um die dritte Stunde, da sie ihn kreuzigten“; Mk. 15.25). Zu 33 und34, den Symbolzahlen Christi, mit ihren gehäuften Anführungen der heiligen 3 kommt auf diese Weise noch eine weitere Nennung hinzu.
 
Daß die bemerkenswert genaue und nicht unkomplizierte Errechnung der Lebensjahre Jesu weit verbreitet und bekannt war, bezeugt die um 1160 entstandene Dichtung „Anegenge“, in der ebenfalls die Dauer der letzten Tage Jesu auf Erden vorgerechnet wird, hier anders, aber mit einem leicht abweichenden Ergebnis (26 Wochen = 182 Tage = ziemlich genau ein halbes Jahr):
 
            swaz er wunders da
            vnt ouch seit ander swa
            in drin vnt drizec iaren begie
            do er was mensch hie
            vnt in sechs vnt zweinzec wochen
            daz ist usn allen offen
            (Alle die Wunder, die er dort und auch anderswo
            in dreiunddreißig Jahren vollbrachte -
            als er hier auf Erden Mensch war -
            und in weiteren sechsundzwanzig Wochen,
            das ist uns allen offenbar)
 
Johannes von Frankenstein wiederum kommt in seiner um 1300 entstandenen Passionsdichtung „Kreuziger“ hinsichtlich Christi Lebensalter zu etwas anderen, aber vergleichbaren Ergebnissen, wenn er bei der Tageberechnung auf den Abstand zwischen Weihnachten und Ostern rekurriert (von Ende Dezember bis Anfang April ca. 3 Monate und 10 Tage):
 
            Man sol ouch wizzen hî verwâre
            daz Christo drî und drîzic jâre
            an sînem leben wurden gezalt,
            daz er wêre wol sô alt
            und waz der zît wêre geacht 
            zwischen den ôstern und wînacht,
            als er daz sterben anevî.
 
Es war der Bischof Eusebius von Cäsarea († 339), eine Autorität unter den frühen Kirchenlehrern, der als erster die Lebenszeit des Jesus von Nazareth bestimmt und auf 33 Jahre festgelegt hatte. Vielleicht darf man eine Anlehnung an Alexander den Großen vermuten, der Idealgestalt antiker Geschichtsschreibung: Alexander war  323 v. Chr. im Alter von 33 Jahren gestorben. Eine weitere Spekulation könnte man an das berühmte INRI auf dem Kreuz Christi knüpfen: I(esus) N(azarenus) R(ex) I(udaeorum). Im Grichischen steht statt „R(ex)“ „Β(ασιλευς)“; der Zahlenwert von ι-ν-β-ι (ι=9, ν=13, β=2, ι=9) ist 33. Mittelalterliche Kunst hat immer wieder über den Sinn der 33 oder 34 nachgedacht. Dante formuliert es zum Beispiel wie ähnlich fünf Jahrhunderte später Hölderlin, „der Gottheit stand es nicht an, den niedergehenden Bogen des Lebens zu durchlaufen.“ 33 galt als Vollalter des Menschen, als die Blütezeit des Lebens, in der Alexander und Christus abberufen wurden. Und unter den Ahnen Jesu war der berühmteste König David, der bezeichnenderweise „in Jerusalem 33 Jahre über ganz Israel und Juda regiert hatte“ (2. Sam. 5.5.).
 
Im Gegensatz zur „40“ begegnen die Zahlen 33 und 34 nur relativ selten als Maßbezeichnungen im Leben der Heiligen oder frommer Menschen. So ließ sich der Heilige Augustinus (* 354) im Jahr 387 vom Mailänder Bischof Ambrosius taufen, die berühmten Geißlerbußfahrten des Mittelalters dauerten 33 1/3 oder 34 Tage.
 
In geradezu jubelndem Ton wird im Alten Testament die Weisheit Gottes, die „sapientia Dei“ angeredet: Du zeigst dich den Menschen daran, daß du „omnia in mensura, et numero, et pendere disposuisti“ (Lib. Sap. 11.21). Alles, ohne Ausnahme, sei in der Schöpfung nach Maß und Zahl und Gewicht perfekt geordnet. Die Theologie und alle Arten von Kunst, ob Bildhauerei und Malerei, Musik oder vor allem die Dichtung, haben Jahrhunderte hindurch immer wieder versucht, diesem Ideal zu entsprechen, in ihren Theorien und Werken den ausgewogenen Plan der Schöpfung zu erspüren und ihn nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten nachzuahmen. Daß dabei immer wieder Erstaunliches geleistet wurde, gehört zu den bleibenden Schätzen der Kultur des christlichen Abendlandes.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021