Vom seltsamen Gebaren der Hunde

Eine alte Geschichte

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Vom seltsamen Gebaren der Hunde

Eine alte Geschichte
 
Von Heinz Rölleke
 
Im reichen Nachlaß der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm finden sich zahllose Materialien, die sie für ihre Werke nicht genutzt, aber trotzdem aufbewahrt haben. Die meisten dieser Handschriften blieben bis heute so gut wie unbekannt.
 
So liegen zum Beispiel in einem Konvolut sechs Texte in der Handschrift des Volksschriftstellers Ludwig Aurbacher (1784-1847) vor. Es handelt sich zumeist um Geschichten, die mit einem „Warum“ beginnen. In ihnen wird etwa aitiologisch erklärt, warum die Hunde den Katzen und die Katzen den Mäusen feind sind oder warum Hunde einander so auffällig zu beschnüffeln pflegen. Diese lautet wie folgt:
 
Bei einer Mahlzeit des Löwen, zu der die meisten Thiere eingeladen
waren, bemerkte man, daß der Pfeffer fehle. Sogleich rief der Löwe
einem Hunde, der mit an der großen Tafel saß, und sagte ihm, er solle
nur recht geschwind in die nächste Stadt laufen und einen Pfeffer holen.
Der Hund, der knurrte und war sehr verdrießlich, daß
er so manchen köstlichen Bissen, den er schon mit seinen Augen
verschlungen hatte, zurücklassen mußte; doch ging er fort, weil er
sonst Prügel empfangen hätte. Aber statt den Pfeffer zu bringen,
spielte er den Schabernack und lief mit dem Pfeffer davon. Man
wartete eine Stunde und noch eine Stunde, wer aber nicht kam, das
war der Hund. Das machte den Löwen böse und er schickte die
übrigen Hunde aus, daß sie den Hund mit dem Pfeffer suchten; und
wo sie ihn fänden, da sollten sie ihn in Stücken zerreißen; und so
lange sollten sie an der Königstafel statt des Fleisches nur die
Knochen bekommen. - Seit der Zeit beschnüffeln sich einander die
Hunde, um den Hund mit dem Pfeffer ausfindig zu machen. Sie
haben ihn aber noch nicht gefunden.
 
Seit uralten Zeiten versuchte man, sich (später den Kindern) rätselhafte Phänomene, deren Herkunft und Sinn man nicht verstand, durch Ursprungssagen (Aitiologien) zu erklären. So erzählt zum Beispiel ein altes Märchen, warum der Mond einmal voll, einmal halb und einmal gar nicht am Himmel erscheint: Der Mond habe von seiner Mutter ein warmes Kleid erbeten, weil die Nächte so kalt seien. Er lief seine Bahn und wurde unterwegs rund und voll, so daß das Kleid nirgends paßte. Der Mond lief wieder seine Bahn und nahm diesmal unterwegs so viel ab, daß ihm das Kleid zu weit war. Da wurde die Mutter ärgerlich, und sie verbot ihrem Sohn das Haus. „Deswegen muß nun der arme Schelm nackt und bloß am Himmel laufen, bis jemand kommt, der ihm ein Röcklein thut kaufen.“ Jacob Grimm hat diese Geschichte aufgeschrieben, die zuerst bei Menander (um 300 v. Chr.) und Plutarch (um 100 n. Chr.) belegt ist
(Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Urfasssung von 1810 – Reclams UB 18520). Zu den bekanntesten aitiologischen Geschichten zählen die 250 Hexameterdichtungen der „Metamorphosen“ des Ovid (um 8 n. Chr.), die jahrhundertelang im ganzen Abendland rezipiert und für alle Kunstformen (Dichtung, Musik, Bildende Kunst) anregend wurden.
 

Foto © Frank Becker

Die Geschichte vom Schnüffeln der Hunde beginnt wie eine Fabel: Der König der Tiere lädt seine Untertanen ein; an der Tafel fehlt ausgerechnet der kostbare Pfeffer – früher eines der teuersten Gewürze (wir sprechen noch heute von gepfefferten Preisen, französisch „Chère comme poivre“, „Chère épice“). Der nach der Kostbarkeit ausgeschickte Hund versteckt den Pfeffer unter seinem Schwanz und läuft auf Nimmerwiedersehen davon. Hier geht die Fabel in die Aitiologie über: Es findet sich nicht die obligatorische Lehre (fabula docet), sondern ein Erklärungsversuch für das seltsame und früher unerklärliche Verhalten der an ihren Rassegenossen schnüffelnden Hunde. Adalbert Kuhn hat 1859 „Das verlorene Urtheil“, eine Geschichte gleichen Themas, veröffentlicht. Ein Hund verklagt seinen Herrn, weil dieser immer das Fleisch ißt und dem Hund nur die Knochen überläßt. Ein Richter gibt dem Tier recht und schreibt das Urteil auf Pergament „mit einer bleiernen Bulle versehen.“ Der Hund steckt es „unter den Schwanz und kneift diesen ein.“ Als er einmal freudig mit dem Schwanz wedelt, fällt das kostbare Pergament ins Wasser. Die übrigen Hunde haben davon gehört und suchen seitdem nach dem Boten, bei dem sie immer noch das Pergament mit dem Urteil vermuten: „Darum ist, wenn ein fremder Vetter kommt, der erste Willkomm immer der, daß sie ihm unter den Schwanz schnüffeln.“ Diese Aitiologie beantwortet also das „Warum“ präzise mit einem „Darum“. Die Geschichte scheint jüngeren Ursprungs als die von Ludwig Aurbacher notierte: Es sind einige Derbheiten gemildert, indem hier nur noch allgemein von einem Versteck unter dem Hundeschwanz die Rede ist, während vorher eindeutig, wenn auch nicht wörtlich, auf ein anderes Versteck im Körper des Hundes verwiesen ist, in dem er immer noch die unentdeckte Köstlichkeit bei sich trägt. Beweis ist eine bei Joseph Eiselein 1840 zitierte alte Redensart: „Ein Hund riecht am andern, ob er den Pfeffer nicht habe.“ Ein Beleg in Wilhelm Wanders berühmtem Sprichwörterbuch (Band 3, S. 1255) spricht es unmißverständlich aus: „Er hat Pfeffer im Arsch.“ Daß die Hund dort den Pfeffer suchen, ist nur logisch, denn sie galten seit Urzeiten als Tiere, die ihre Nase in alles, in jeden Dreck stecken (wiederum bei Wander, S. 954 belegt). Heute kennt man die Ursachen für das scheinbar sinnlose Verhalten der Hunde. Sie orientieren sich dank ihres hochentwickelten Geruchssinns genauestens über ihre Rassegenossen mittels Wahrnehmung der Pheromone, die am stärksten in den Intimbereichen vorhanden sind, vor allem was deren sexuellen Zustand betrifft (wie Hunde ja auch den Eisprung der Frauen mit der Nase wittern können). Mittels seiner oft spitzen Nase fühlt sich ein Hund in den Zustand eines anderen ein. So hat es auch Jacob Grimm im Deutschen Wörterbuch erklärt: „beriechen, sich beriechen, erforschen, kennen lernen, z.B. wir müssen uns erst miteinander beriechen“; hat man sich „berochen“, so „weiß man, was man aneinander findet.“ Hier ist das Verhalten der Hunde im übertragenen Sinn metaphorisch auf menschliches Verhalten bezogen – kurz und bündig im westfälischen Soest belegt: „Se weit sik éist beriuken“ (sie wollen sich erst beriechen, näher kennen lernen).
 
Zu den ältesten schriftlichen Dokumenten der deutschen Sprache (um 810, noch zu Lebzeiten Karls des Großen entstanden) zählen die nach ihrem Fundort benannten, zum Teil zweisprachigen „Kasseler Glossen“, in denen Sprachhilfen für einen in Bayern reisenden Franzosen enthalten sind. Man riet ihm offenbar zur Vorsicht: Er solle den Bayern schmeicheln und die eigenen Landsleute schmähen. „Stulti sunt Romani, sapienti sunt Paioari“: „Tole (toll, dumm) sint Uualhâ (die Welschen, die romanischen Völker), spahe (klug) sint Paeigira (Bayern).“ Auch eine Reihe deutschsprachiger Verwünschungen schienen für die Belehrung der Reisenden angebracht, und einer dieser Flüche könnte sich auf die Geschichte von den Hundenasen im Hintern ihrer Verwandten gründen. „Canis culum in tuo naso“: „Vndes (des Hundes) ars (Arsch) in tine naso (in deine Nase).“ Zwar ist die Richtung umgekehrt: Man flucht dem anderen „ars“ des Hundes an seine Nase, statt daß er seine Nase in den Hintern des Hundes steckt, aber die Bildsprache ist wohl eindeutig. Die aitiologische Geschichte muß wohl alt und schon vor über zwölfhundert Jahren hierzulande sehr bekannt gewesen sein, wenn man aus ihr diesen Fluch ableiten und damit auf das Verständnis der Leute rechnen konnte.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021