Auf der Suche nach der verlorenen Frau

Patrick Modiano – „Unsichtbare Tinte“

von Johannes Vesper

Auf der Suche nach der verlorenen Frau
 
 Es gibt Leerstellen in diesem Leben“ - damit beginnt dieser schmale Roman. Der Erzähler schaut auf ein altes Karteiblatt in einer Mappe, mit „Dossier“ beschriftet. Darunter versteht man eigentlich eine Sammlung von Schriftstücken, aber dieses hier ist zunächst fast leer. Erst im Laufe der Ermittlungen werden Fundstücke, Briefe, Kalender dem Dossier hinzugefügt. Vor Jahrzehnten, als er 20 Jahre alt war, hatte der Erzähler in einer nicht näher bezeichneten Agentur (Privatdetektei?) in Paris eine erste Aufgabe bekommen und zwar eine damals plötzlich verschwundene Frau zu suchen, über deren Identität nichts weiter bekannt war. Die einzige Brücke bestand in einem Berechtigungsausweis zum Empfang postlagernder Briefsendungen für eine Noëlle Lefebvre, in welchem die letzte Adresse angegeben war und sich ein Foto der gesuchten befand. Er war damals in ihrer Wohnung gefunden worden.
 
Die Geschichte spielt zunächst in Paris, wie eigentlich alle 29 Romane Patrick Modianos, des Literaturnobelpreisträgers von 2014. Die Atmosphäre der Stadt mit ihren Cafés, Bistros, Tanzbars, Parks, Straßen lebt in seinen Büchern, die alle in „ein verschleiertes Licht dieser Stadt getaucht" seien, sagt er in einem Interview. Im Paris der unmittelbaren Nachkriegszeit -dort wurde er 1945 geboren- verbrachte er seine Kinder- und Jugendzeit auf der Straße oder bei den Großeltern bzw. später in Internaten. Sein erster Roman „La Place de l´Étoile“ spielt in der Stadt in der Besatzungszeit, hatte sein jüdischer Vater doch im Untergrund gelebt und er selbst hat den Eindruck „aus Chaos und Krieg geboren zu sein“ und... „gehöre außerdem zu einer Generation, in der die Kinder gesehen und nicht gehört wurden, außer zu seltenen Gelegenheiten, und nur, nachdem sie um Erlaubnis gefragt hatten." Das alles und mehr sagte er anläßlich der Verleihung des Nobelpreises 2014. In Frankreich bereits seit den 60er Jahren gelesen und hoch geehrt, erschien das Romandebüt erst 2010 auf Deutsch.
 
In dem vorliegenden Roman stellt sich der Erzähler als Jan Eyben vor, der als junger Mann diese Arbeit gesucht und gefunden habe in der Hoffnung, an inspirierendes Material zu kommen, falls er sich eines Tages der Literatur widmen wollte. Autobiographischer Hinweis? Im Verlaufe des Romans erinnert er seine Suche nach der verlorenen Frau, läßt den Lesenden an der Geschichte seiner Erinnerungen bzw. dem Fortschritt der Ermittlungen teilhaben, indem er im Text gelegentlich auf die aktuelle Seitenzahl hinweist. „Heute beginne ich die dreiundsechzigste Seite….“. Auf Seite 104 ist zu lesen, er habe mit dieser Suche zwar mehr als 100 Seiten gefüllt, ihr jedoch in den letzten dreißig Jahren insgesamt nicht viel Zeit gewidmet, zunächst eigentlich nur drei Monate. Bei der Nobelpreisverleihung war von seiner „Kunst der Erinnerung“ die Rede." „1945 geboren zu sein, nachdem Städte zerstört und ganze Bevölkerungen verschwunden waren, muß mich, wie andere meines Alters, sensibler für die Themen Erinnerung und Vergessen gemacht haben", sagte Modiano in seiner Nobelpreisrede. Um diese Themen geht es nicht nur beim vorliegenden Roman, sondern auch schon beim voran gegangenen („Gräser der Nacht“), in dem ebenfalls der Erinnerung an die Suche nach einer spurlos verschwundenen Frau nachgespürt wird. Beim Schreiben seiner mysteriösen Nachforschungen, denkt er an magische Tinte, mit der alles schon einmal geschrieben worden sei und hofft wie der Leser, daß die Rätsel der Geschichte mit fortschreitender Seitenzahl gelöst werden, wofern man die Substanz in die Finger bekommt, die Schrift sichtbar macht. Während im Polizeibericht sachlich, nüchtern und exakt die Realität geschildert wird, erscheint bei Modiano das Bild des Lebens aus Erinnerung und Vergessen langsam wie ein analoges Foto beim Entwickeln in der Dunkelkammer. Oder es entsteht beim Schreiben, wenn „im ununterbrochenen Strom der Wörter und Sätze vergessene Einzelheiten allmählich wieder an die Oberfläche kommen“. Strukturierend wirken dabei immer wieder mal auftauchende Begriffe und Satzfetzen im Text wie Motive in der Musik.
 
Im Roman gesteht er mehrfach, daß er schon immer Spaß daran gehabt habe sich neugierig „ins Leben anderer einzuschleichen, um sie besser zu verstehen und die verhedderten Fäden ihres Lebens zu entwirren“. Im Notizbuch von Noelle, welches sich in ihrer Wohnung fand, gab es zahlreiche Leerstellen, und, größer geschrieben, den Satz: „Hätte ich gewußt…“. Was wäre im Leben von Noelle anders gelaufen, hätte sie was gewußt? Diese Frage bleibt ungelöst. Machen ungelöste Fragen das Leben aus? Hat man „einmal alle Antworten gefunden, schnappt dann das Leben hinter einem zu wie eine Falle? Wäre es nicht ratsamer, man ließe Brachflächen um sich herum?“. Das fragt sich der Erzähler. Traumartige, auch trügerische Erinnerungen, Vermischung von Gegenwart und Vergangenheit in „bizarrem Schwebezustand“, nachdenklich, poesie- wie stimmungsvoll virtuos erzählend, damit reduziert Patrick Modiano die Leerstellen des Lebens, flickt löchrige, sozusagen „modianesque“ Lebenszeit. Die Geschichte endet in Rom, wo es Noelle hin verschlagen hat. Leser werden aber bei dieser Lektüre weder verlorene Zeit durchleben noch suchen müssen. Empfehlenswert.
 
Patrick Modiano – „Unsichtbare Tinte“
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
© 2021 Carl Hanser Verlag. 142 Seiten, gebunden - ISBN 978-3-446-26918-7
19,- €

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