Prachtvoll wie ein Doge in seiner scharlachroten Robe

Julian Barnes – „Der Mann im roten Rock“

von Johannes Vesper

Prachtvoll wie ein Doge
in seiner scharlachroten Robe
 
Geschichte der Belle Époque mit Prof. Samuel Pozzi
 
Diese Kulturgeschichte der Belle Époque beginnt im Juni 1885, vielleicht aber auch schon 1809 in Kentucky, als Jane Crawford ohne Narkose eine Eierstockszyste entfernt wird und damit 15 Liter Flüssigkeit. Dazu aber später.
Der Titel weist auf das Gemälde hin, welches den Helden dieser 304 Seiten zeigt. „Der Mann im Roten Rock“ trägt gepflegtes Schnurr- und Barthaar, stützt die ausdrucksstarke linke Hand in die Lende, greift mit seiner rechten an die Brust und schaut interessiert nach links. Weiße Rüschen an den Handgelenken und am Hals bieten einen gewissen Kontrast zum Morgenmantel, unter dem der rechte Fuß in rotem Schuh gerade eben hervor lugt. Im Schritt hängt locker ebenfalls in scharlachrot die Troddel des Gürtels. Wer hat das Bild gemalt? John Sargent Singer (1856-1925) war der berühmteste und erfolgreichste amerikanische Porträtmaler seiner Zeit, malte zwischen Paris und London die Hautevolee der europäischen Gesellschaft (900 Ölgemälde ca. 2000 Aquarelle laut Wiki). Und wer stand hier Modell? Dr. Samuel Jean Pozzi (1845-1918) galt als „Modearzt, Büchersammler, kultivierter Gesprächspartner“. Von ihm und seinen Freunden, dem Komponisten Prinz Edmond de Polignac und dem Literaten Graf Robert de Montesquiou-Fezensac, wird zu Beginn erzählt, wie sie im Juni 1885 nach London reisen. Das Leben von Bürger, Graf und Prinz bietet quasi das Gerüst für die schillernde wie interessante Kulturgeschichte dieser Zeit. Sie wird breit, kurzweilig, interessant, literarisch, informativ als eine Historie des Dandytums abgehandelt.
 
Der Schriftsteller Montesquiou war bekannt geworden als Jean Floras des Esseintes, die Titelfigur des Romans „Gegen den Strich“ von Joris-Karl Huysman. Für sie hatte sich der Autor den Gesellschaftslöwen, den „Influencer“ der damaligen Zeit zum Vorbild genommen und ihn in seiner „träumerisch-meditativen Bibel der Dekadenz“ verewigt. Montesquious berühmte vergoldete Schildkröte machte den Roman berühmt, nicht die langen Reflexionen über Literatur, Kunst und Musik. Und ohne Huysmans „Gegen den Strich“ hätte Oscar Wilde seinen autobiographischen Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ nicht verfassen können. Das wurde klar bei dem Prozeß in London gegen ihn wegen seiner Homosexualität. All das und vieles andere mehr handelt Julian Barnes kenntnisreich, detailverliebt ab. Natürlich geht es nicht nur um Sittengeschichte, auch um die Blütezeit der Malerei in Frankreich von den Impressionisten bis hin zu Braque und Picasso. Zahllose kulturhistorische Facetten läßt Julian Barnes in seinem Essay über 300 Seiten aufblitzen bzw. stellt ihre Zusammenhänge dar, und das auf leichter, lockerer, amüsanter Tastatur.
 
Im Mittelpunkt seiner Geschichte steht „der Zerhacker zarten Frauenfleisches“, wie ihn Neider nannten. Prof. Samuel Pozzi publizierte 1890 seinen „Traité de gynécologie“, in dem er auf 1.120 Seiten das gesamte damalige gynäkologische Wissen zusammengefaßt hat. Ohne ihn wäre die Belle Époque sicher noch kränker gewesen. Die Frauen schätzten bei dem leidenschaftlichen Chirurgen und Arzt seine Empathie, Zuwendung und seine feine Nahttechnik, „die nicht die kleinste Spur hinterläßt, die einen Ehemann oder einen Liebhaber abstoßen könnte“. Er selbst, der unverbesserliche Verführer“ und „Giaur“ reiste, wenn er nicht operierte, mit seiner Geliebten quer durch ganz Europa, z.B. zum Gynäkologen-Kongreß in Athen und zwar mit dem Schlafwagen nach Marseille und von dort mit dem Schiff nach Griechenland. 1906 kam er zum 9. Mal nach Bayreuth zu den Festspielen, traf dort die Colette, sah in München die „Zauberflöte“ und in Oberammergau die Passionsspiele. Mehrfach reiste er, wie auch seine Freunde Montesquiou und Oscar Wilde in die USA, einmal auf der 2.000-Tonnen Dampfjacht (mit Milchkühen und türkischem Bad!) eines reichen amerikanischen Patienten, den er nach einem Unfall erfolgreich zusammengeflickt hatte. In den USA besuchte die 1889 gegründete Mayo-Klinik. In Montreal demonstrierte er seinen Kollegen seine Operationstechnik, in dem er eine Laparotomie und eine Gebärmutterentfernung ebenso schnell wie elegant durchführte. Er zeigte sich begeistert von amerikanischen Gesundheitswesen und gründete nach seiner Rückkehr ein Comité des dames (sozusagen die „grünen Damen“) zur Unterhaltung und Hilfe seiner Patientinnen. In New York hatte er einen Vortrag gehalten zum 100jährigen Jubiläum der 1. Eierstockentfernung am 1. Weihnachtsfeiertag 1809 durch Ephraim McDowell. Die Eröffnung der Bauchhöhle damals hatte die Patientin um immerhin 32 Jahre überlebt. Ob er bei dieser Gelegenheit auch die schon 1701 von John Houston erfolgreich durchgeführte Entfernung einer großen Eierstockzyste erwähnte, ist nicht bekannt. Auch diese Patientin hat ihre Operation übrigens jahrelang überlebt im Gegensatz zu Samuel Pozzi, der einige Jahre nach der erfolgreichen Operation eines seiner Patienten von eben diesem in seinem Sprechzimmer erschossen wurde.
 

Prof. Samuel Pozzi,  B. Moloch pinx. (d.i.  Alphonse Hector Colombe)

Prinz Polignac, verarmter, berühmter französischer Adel war als Komponist wenig erfolgreich, beeindruckte aber immerhin die sehr viel jüngere Winnaretta Singer. Infolge der millionenschweren Erbin des amerikanischen Nähmaschinenvermögens lösten sich die finanziellen Probleme und sexuelle Nöte aller beteiligter in Nichts auf. Zum regelmäßigen Salon der beiden kamen u.a. Gabriel Fauré, Charles-Marie Widor, Louis Vierne und auch Marcel Proust, der von seinem Freund Montesquiou dort eingeführt worden war.
Viele der im Text behandelten damaligen „Promis“ (Celebrités Contemporaines) sind im Buch abgebildet und zwar als Schokoladenbildchen des berühmten Kaufmanns Felix Potin, der Kaufhäuser gründete, schon damals nach Hause lieferte. Diese Fotos lagen jeder seiner verkauften Schokoladentafeln bei. Vermutlich waren sie alle Pozzis Patienten und Patientinnen. Mit Marcel Proust hat er diniert. Sarah Bernhardt war Nymphomanin und seine berühmteste Geliebte. Ihr hat er eine kindskopfgroße Zyste entfernt. Anscheinend hatte er mit etlichen seiner Patientinnen amouröse und sexuelle Beziehungen. Keine und auch kein Ehemann hat sich je beschwert.
 
Das Sachbuch liest sich wie ein Roman und des Autors Sympathie für Weltoffenheit, Charme und Takt seines Titelhelden ist unübersehbar. „Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz“ zitiert er ihn, der „rational, wissenschaftlich, fortschrittlich wißbegierig … sein Leben in Europa mit Medizin, Kunst, Büchern, Reisen… und so viel Sex wie nur möglich verbracht hat“. Das Nachwort ist ein engagiertes Plädoyer für Europa gegen die Dummheit, Arroganz und Unfähigkeit der „verblendeten“ englischen politischen „Elite“. Den unsäglichen Brexit hält er für eine kapitales Versagen englischer Denke und Politik.
Julian Barnes schrieb zahlreiche Bücher, unter Pseudonym Dan Kavanagh auch Krimis und erhielt zahlreiche internationale Buchpreise.
 
Julian Barnes – „Der Mann im roten Rock“
Originaltitel: The Man in the Red Coat
aus dem Englischen von Gertraude Krueger.
© 2021 Verlag Kiepenheuer & Witsch, 304 Seiten, gebunden, zahlreiche Abbildungen (farbig und s/w) - ISBN: 978-3-462-32169-2
24,-€ / als e-Buch 19,99 €
 
Weitere Informationen:  www.kiwi-verlag.de