Das Karnevalsgefühl

von Erwin Grosche

Foto © Linsensüppchen 54
Das Karnevalsgefühl
 
Wenn in Paderborn kein Karneval gefeiert wird, ist das kaum zu bemerken. Andersrum ist es aber auch so. Aus sich herausgehen liegt uns nicht so. Das Karnevalsgefühl besteht aus einer Prise Oberflächlichkeit, einem Hauch Naivität und einem Löffel Selbstverleugnung. So wie Tomatensaft mit Pfeffer und Salz nur im Flugzeug mundet, klatschen alle plötzlich bei schlichten Liedern und lachen über Büttenreden, die nur zu ertragen sind, wenn der Alkoholpegel jeden soweit gebracht hat, daß er doppelt sieht. „Kommt ein Mann zum Arzt: „Herr Doktor, ich seh `alles doppelt!“ „Na, dann legen sie sich mal auf die Liege.“ Fragt der Mann: „Auf welche?“ Nicht ohne Grund glauben viele Paderborner, man verkleidet sich, damit man später auf Fotos nicht erkannt werden kann. Man darf nicht vergessen, daß die rheinischen Narren in Großstädten leben. In Paderborn trifft man sich am nächsten Morgen wieder. Im Karneval muß alles laut, bunt und unanständig sein. Die Übertreibung ist eine Grundvoraussetzung des fröhlichen Hochgefühls. Bei uns bekommt man zum Fest zehn Berliner zum Preis von neun und wenn man die aufgegessen hat, ist Karneval vorüber und der Stecker wird gezogen. „Wie nennt man eine Blondine, die in die Steckdose greift? Funkenmariechen.“ Nun wurde ein großes Plakat gegenüber der Uni aufgestellt, wo der Ausfall des Karnevals bedauert wird: „Der Karneval macht 2021 nur eine Pause. Den Virus schicken wir dann bald nach Hause“. Da stimmt das Versmaß nicht. Die Aussage ist diffus. Unterschiedliche Silbenhäufungen in der ersten und der zweiten Reihe ergeben keinen schönen Sprechrhythmus. Und vor allen Dingen, das ist langweilig. Nach diesen zwei Jahren, wo man nicht lustig sein mußte, fangen wir wieder bei Null an. Ich habe eine Bekannte, der wird jetzt immer schlecht beim Schunkeln und dabei ist sie Busfahrerin. Man muß nicht über alles lachen, nur weil es lustig ist. Man muß nicht immer mitsingen, wenn man sich dabei schämt. Unsere Ernsthaftigkeit und Bescheidenheit ist auch liebenswert. Es muß jemanden geben, der den Überblick behält. Früher gab es auf Parties einen, der keinen Alkohol trank und alle mit dem Auto nach Hause brachte. Das ist der Paderborner. Es muß doch jemanden geben, der am nächsten Morgen das Frühstück ans Bett bringt und sagt: „Treffen sich zwei Rühreier, sagt das eine: Ich bin ganz durcheinander.“ Auch Karnevalisten brauchen einen Nüchternen, den man umarmen kann, sonst fallen beide um. Einen Paderborner kann man gut umarmen. Er liegt gut in der Hand und lacht nicht, wenn man ihn kitzelt. Ein Paderborner traf mal am Aschermittwoch einen einsamer Trinker in der Akka und fragte: „Warum gehst du denn nicht nach Hause?“ Und er sagte: „Weil meine Frau böse auf mich ist.“ Und der Paderborner fragte: „Warum ist sie denn böse auf dich?“ Und der Trinker antwortete: „Weil ich nicht nach Hause komme.“ Da umarmte der Paderborner den einsamen Trinker und brachte ihn, haste nicht gesehn, nach Hause.

© 2021 Erwin Grosche