Über die Selbstunterhaltung in kulturlosen Zeiten

von Erwin Grosche

Foto © Linsensüppchen 54
Über die Selbstunterhaltung
in kulturlosen Zeiten
 
Man kann der Hölle nur entfliehen, wenn man Gutes tut. Das Böse verliert seinen Schrecken durch ein Lächeln. Ist es nicht Aufgabe der Unterhaltungskünstler uns daran zu erinnern, daß wir leben? Wir verkümmern ohne Verführungen und suchen händeringend nach Ablenkung. Manche backen nun selbst ihr Brot, haben aber niemanden, der es essen will. Viele holen sich einen Hund und bringen ihm Kunststücke bei, damit man jemanden hat, den man ausbuhen kann. Schnell ist klar, auch die talentiertesten Hunde können unseren Unterhaltungsbetrieb nicht aufrecht erhalten, selbst wenn sie Männchen machen können. Ein Golden Retriever kann keinen Komiker ersetzen. Warum unterhalten wir uns also nicht gegenseitig? Man könnte den Entgegenkommenden überraschen mit einem Salto. Welch ein schönes Bild und welch ein Vergnügen wieder staunen zu dürfen. Wo sind die Krankenhausclowns, wenn man sie braucht? Muß man erst einen Schlafanzug anziehen, damit sie einen ernst nehmen? Wie schön wäre es, wenn wir bei einem Spaziergang durch den Haxtergrund jemanden treffen würden, der uns ein Lied auf einem Kamm vorbläst: „Paderborn, Paderborn, meine Stadt, ich liebe dich!“ Irgendwas kann doch jeder. Manche Ehepaare können Popsongs singen. Das muß nicht perfekt sein, aber es ist anrührend, wenn ein Ehepaar, das man nur flüchtig kennt, mit einer zweistimmigen Fassung von Alicia Keys „Fallin“ überrascht. Vielleicht haben sie das Glück Georg Enzian zu treffen, der unglaubliche Kunststücke mit seinen Ohren vorführen kann. Das ist Kleinkunst vom Feinsten. „Goethe spielt Flöte auf dem Schiller sein Piller“ (F.K. Waechter) wäre ein guter Einstieg in die Welt der Klassiker. Warum tragen nicht Künstler wie Werner Schlegel oder Wilfried Hagebölling ihre Skulpturen mit sich? Jetzt hätten wir Zeit, uns moderner Kunst zu stellen. Warum nicht gemeinsam ein Gebet sprechen, wenn man allein ist und Zuspruch braucht? Ich mag dieses Spiel, wo sich zufällig Treffende mit dem überraschen müssen, was sie in den Taschen tragen. Da punktet das Kondom vor dem Haustürschlüssel, und das Seifenblasenset vor der SCP-Dauerkarte. Vergessen wir nicht, wir dürfen uns nicht mehr umarmen, aber wir können uns Mut zusprechen. Sagen wir dem Steuerberater: „Es ist schön dich zu sehen. Du bist mein Trost und mein Glück.“ Loben wir unsere Zahnärztin: „Es bedeutet mir viel, daß es hier jemanden gibt, dem meine Zähne nicht egal sind.“ Erinnern wir uns daran, daß wir das Glück haben in Paderborn zu wohnen. Stellen sie sich vor, sie würden in Duisburg leben, dann würden sie nur Duisburger treffen. Es ist immer schön, einem Paderborner zu begegnen. Er ruht in sich und kennt den Unterschied zwischen Marmelade und Konfitüre. Das ist der Vorteil, wenn der größte Marmeladenabfüller Europas hier eine Heimat gefunden hat.
 
© 2021 Erwin Grosche