Das Jenseits

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker

Das Jenseits
 
Wenn es denn ein Jenseits geben sollte, können wir es uns nicht vorstellen. Zu Weihnachten soll es ja ganz nahe herankommen. Hätten wir eine  Vorstellung davon, so wäre es sicher keines.
 
Aber nun können wir eigentlich nur in Bildern denken. Manchmal steigt die Ahnung eines Gefühls für „das da drüben“ in mir auf, und die wird zu einem Bild –
 
Ich ahne das unheimliche, unwirkliche Lebensgefühl eines Menschen, der am sehr frühen Morgen den Hafen eines Fischerstädtchens an der Atlantikküste betritt.
Die Morgensonne überglänzt es bereits, der Seewind umschmeichelt sein Gesicht. So einen Augenblick habe ich erlebt, viele andere sicher auch.
 
Kein Mensch ist zu sehen. Noch nie war der Mann  so allein, noch nie so ohne Macht. Er hat den vertrauten Boden nicht mehr unter sich, seinen Halt findet er nur im Vorwärts-Gleiten. Was immer er tun würde, es wäre, als wenn er  mit der Faust in einen Wattebausch schlüge.
 
Wie eine geduldige Herde drängen sich die Boote und Yachten am Kai zusammen, sie schaukeln in der Dünung. Am Horizont endet der schimmernde Ozean, der doch unendlich ist. Es herrscht überirdische Stille, in der sich nichts ereignet und alles geschieht.
 
Der Mensch ahnt, daß ein Schiff für ihn kommt, das ihn an Bord nehmen wird.
Etwas Ungeheures wird geschehen.
 
 
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Karl Otto Mühl (* 16. Februar 1923 in Nürnberg - † 21. August 2020 in Wuppertal)