Märchenhaftes „Vergnügen“

Ein Wort im Bedeutungswandel

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Märchenhaftes „Vergnügen“
 
Ein Wort im Bedeutungswandel
 
Von Heinz Rölleke
 
Nicht nur Bücher, auch Wörter haben ihre Schicksale, wenn sie sich durch Jahrhunderte im Sprachgebrauch halten. Schon seit dem 8. Jahrhundert ist das Adjektiv „geil“ belegt. Es wird bis zum 16. Jahrhundert zuerst ausschließlich, dann immer noch überwiegend im Sinn von 'fröhlich', 'lustig', 'übermütig' verstanden. So muß man in mittelalterlichen Texten die Wendung „geile nunnen“ als Bezeichnung von in ihrer Frömmigkeit „fröhlichen Nonnen“ verstehen. Mit wachsender Prüderie geriet übermütiges (fröhliches) Wesen in den immer stärkeren Verdacht, solche Lustigkeit beruhe auch oder gar nur auf sexuellen Freuden, so daß die Bezeichnung „geil“ in der Hochsprache gemieden und zeitweise ganz zum Tabuwort wurde. Erst die Jugendsprache des 20. Jahrhunderts okkupierte es für sich und verstand das zwar immer noch als leicht anrüchig empfundene Adjektiv schließlich nurmehr als positive Wertung einer Sache, eines Menschen, einer Stimmung oder Befindlichkeit. Es drückte sozusagen das Höchste der Gefühle aus und wurde entsprechend inflationär gesteigert etwa zu „affengeil“, „supergeil“, „megageil“, wobei denn doch wieder die sexuelle Attraktivität als Nebenbedeutung Raum gewinnt. Das ist also eine Art Berg- und Talfahrt, die dieses Wort in der deutschen Sprachgeschichte bisher zurückgelegt hat. Worte, die im Lauf der Jahrhunderte einen Bedeutungswandel durchgemacht haben, ohne ihre Form zu verändern, sind in historischen Dokumenten nicht leicht richtig zu verstehen.
 
Hier soll es um das Schicksal eines sinnverwandten Wortes gehen, nämlich das Substantiv „Vergnügen“ und dessen Ableitungen in Adjektiv- oder Verbformen wie „vergnügt“, „sich vergnügen“ oder „vergnügt sein“. 
 
Das Wort wird in Dichtungen relativ häufig gebraucht. Dafür drei Beispiele aus drei Jahrhunderten.
 
Der hervorragende Barocklyriker Paul Fleming schrieb um 1641 in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges sein berühmtes Sonett „An sich“, in dem es in der Eingangsstrophe heißt:                              
 
                        Weich keinem Glücke nicht, steh' höher als der Neid,
                        vergnüge dich an dir und acht es für kein Leid,
                        hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.
 
Ein berühmtes Lied Johann Sebastian Bachs auf Verse eines unbekannten Dichters entstand um 1725 „Bist du bei mir“:
 
                        Bist du bei mir, geh ich mit Freuden
                        Zum Sterben und zu meiner Ruh'.    
                        Ach, wie vergnügt wär' so mein Ende.
 
Dies ist eine allgemeine Vorstellung in der Barocklyrik. Hans Aßmann von Abschatz (1646 bis 1699) etwa hatte zuvor gedichtet: „Ich sterbe wohl vergnügt […], wenn nur dein Mund Ade du treue Seele saget.“
 
Eduard Mörike verfaßte 1832 ein „Gebet“:
 
                        Herr, schicke was du willt,
                        Ein Liebes oder Leides,
                        Ich bin vergnügt,
                        Daß Beides
                        Aus Deinen Händen quillt.
 
Der moderne Leser wird verwundert oder gar befremdet zur Kenntnis nehmen, was die drei Dichter ihm da zumuten: Das Lyrische Ich Mörikes scheint befremdlich „vergnügt“ zu sein, wenn ihm der Herr „ein Leides“ zumutet oder auferlegt. Im Bach-Lied wird gar behauptet, man könne eines Tages fröhlich („vergnügt“) sterben, und der Barockdichter, der erkennbar von der Idee der Magnaminitas (Hochherzigkeit, Seelengröße) ausgeht, empfiehlt bei unverdienten Schicksalsschlägen oder Neidattacken der Mitmenschen nicht über diese zu klagen, sondern sie in seiner Wahrnehmung und Beurteilung, im Inneren zufrieden, als „Vergnügen“ anzunehmen – denn nicht auf die scheinbar schrecklichen Erlebnisse als solche kommt es an, sondern nur darauf, wie der betroffene Mensch damit umgeht, wie er sie in sich selbst entfaltet, beurteilt und auf sich wirken läßt; in der 3. Strophe heißt es nämlich:
 
                        Was klagt, was lobt man noch? Sein Unglück und sein Glücke
                        Ist ihm ein jeder selbst. Schau alle Sachen an:
                        dies alles ist in dir.
 
Was bedeutet denn hier in den verschiedenen Kontexten das Wort „vergnügt“? Da muß man denn die Etymologie des Wortes befragen.
Das Adjektiv „ver-gnügt“ besteht aus Stamm- und Vorsilbe. Diese begegnet in unzähligen Wendungen, kann aber höchst Verschiedenes anzeigen; negativ: Ich laufe, aber ich „ver“laufe mich, ich irre, aber ich „ver“irre mich, ich greife, aber ich „ver“greife mich. Andererseits kann „ver“ den endgültigen Abschluß einer Tätigkeit anzeigen: Etwas schwindet, bis es „ver“schwindet; das Wasser sickert, bis es ganz „ver“sickert ist, einer liebt und ist schließlich ganz und gar „verliebt“. Beim Verb „hören“ kann man beide Varianten der Bedeutung „ver“ bilden: Sich „ver“-hören (etwas akustisch mißverstehen), jemanden „ver“-hören  (gänzlich aushorchen). Sehr schön läßt sich die Bedeutung des „ver“ an der Ableitung vom Verb „essen“ verfolgen. Man ißt etwas oder man ißt alles auf. Letztere bedeutet: Man „ver“ißt es restlos, woraus sich unser Verb „fressen“ entwickelt hat. Früher war es eine Fehlhaltung, alles aufzuessen, wie das die unvernünftigen Tiere tun, denn der Mensch konnte nie wissen, ob es am nächsten Tag wieder etwas für ihn zu essen gab; sehr viel später wurde daraus eine Frage des Benehmens: Man aß und ließ zuletzt höflicherweise einen Rest auf dem Teller zurück, um anzuzeigen, daß man befriedigend gesättigt war. Luther spricht in einem Weihnachtslied vom Kind in der Krippe, an der Ochs und Esel stehen: „Daß du da liegst auf dürrem Gras, davon ein Rind und Esel aß“ (die Tiere an der Krippe „aßen“ nur, damit das Kind weiter weich liegen konnte). Theodor Storm formuliert umgekehrt: „Äpfel, Nuß und Mandelkern fressen fromme Kinder gern“ - selbst fromme und brave Kinder pflegen bei den Bescherungen in der Weihnachtszeit die guten Gaben des Knecht Ruprecht sofort und restlos aufzuessen: Sie haben noch kein Benehmen und fressen wie die Tiere.

Soviel zur Bedeutung der Vorsilbe „ver“, die im Wort „vergnügt“ zweifellos keine negative Bedeutung hat; vielmehr zeigt sie hier positiv einen Zustand der Vollendung an. Was ist denn in „ver-gnügt“ vollendet? Das 'Genügen' (abgeleitet von 'genug') ist vollkommen. Man begnügt sich „ver“-gnügt mit dem, was einem zuteil wird: mit einem Gleichmaß von „Liebe“ und „Leid“ (Mörike), mit einem ausgeglichenen, mit sich und der Welt zufriedenen Gemüt in der Sterbestunde (Bach), oder man begnügt sich mit seinem eigenen angemessenen Umgang mit Glück oder Unglück (Fleming) und gewinnt damit Zufriedenheit. Die Wortbedeutung wandelt sich allmählich seit Beginn des 18. Jahrhunderts von 'genüge tun', 'hinreichend' und  'zufriedenstellend sein' in Richtung auf  'Empfindung eines angenehmen Zustandes', wie es Adelung in seinem großen Wörterbuch von 1780 und später das Grimm'sche Wörterbuch zutreffend feststellen. Dabei gerät der 'angenehme Zustand' zugleich in die Nähe der „voluptas“ - die Erotik gewährt demnach größte Zufriedenheit und angenehmste Empfindungen.
 
Die Bedeutung hat sich unmerklich gewandelt: „Vergnügen“ ist nicht mehr ein zufriedenes Begnügen mit einem Zustand, sondern eine Empfindung von Behaglichkeit, Freude und Lust.
 
Unter diesen Voraussetzungen muß man das in den Grimm'schen „Kinder- und Hausmärchen“ häufig begegnende Wort richtig zu verstehen suchen, was bisher noch so gut wie gar nicht geleistet worden ist.
 
Auffallend viele Märchen enden mit den das finale Happyend beschließenden stereotypen Wendungen wie „Darauf hielten sie Hochzeit und lebten vergnügt miteinander.“ Aus der Fülle weiterer Belege hier nur einige im Wortlaut der KHM-Erstausgabe von 1812/15. „[...] dann hielt er Hochzeit und sie lebten vergnügt miteinander“; „[...] erbte das Reich und lebte lange Zeit vergnügt mit seiner Gemahlin“; „vermählte sich mit seiner rechten Braut und sie lebten […] vergnügt“; „Da war die Hochzeit […] und beide lebten vergnügt.“ Wenn das Motiv mitten in einem Text auftaucht, so ist das meist ein retardierendes Element: Das Glück wird gestört und erst im Finale endgültig erlangt. „[...] da wachten sie in der Nacht […] und lebten lange Zeit vergnügt miteinander“; „[...] er gefiel der Prinzessin gut und ward ihr Gemahl. So lebten sie lange Zeit vergnügt“; „Sie hielten nun Hochzeit miteinander und waren vergnügt.“ In den zitierten Wendungen läßt sich selbstverständlich der alte Sinn von „vergnügt“ (zufrieden) erkennen, aber fast immer schwingt auch eine Andeutung erotischer Freuden mit. Daß dies so zu verstehen ist, können einige andere Zitate, in denen auffällig oft das Adjektiv „schön“ begegnet, verdeutlichen. „Also lebten sie vergnügt und die Königin gebar einen schönen Prinzen“; „Wenn ich nur wüßte, was dich vergnügt machen könnte: willst du meine schöne Tochter zur Frau?“; „Der neue Jäger […] und neben ihm ein schönes Mädchen […] beide sehr fröhlich und vergnügt miteinander.“ Die erotische Bedeutung des Wortes „vergnügt“ wird in drei Märchen besonders deutlich. Im „Froschkönig“ heißt es:
 
            Aber der Frosch fiel nicht todt herunter, sondern wie er herab auf das      
            Bett kam, da wars ein schöner junger Prinz. Der war nun ihr lieber  
            Geselle […] und sie schliefen vergnügt zusammen ein.
 
            Jorinde und Joringel [...] waren in den Brauttagen und hatten ihr  
            größtes Vergnügen eins am andern. Damit sie nun einmal vertraut          
            zusammen reden könnten, gingen sie in den Wald.
 
Dort verhütet eine Fee, wie zuvor schon bei „sieben tausend“ Jungfrauen, daß es zu Weiterungen zwischen den beiden kommt, und verwandelt Jorinde in einen Vogel. Joringel kann sie erlösen, „da ging er mit seiner Jorinde nach Hause und lebten lange vergnügt zusammen.“
 
„Rapunzel“ empfängt hinter dem Rücken der Fee, die sie  - offenbar um ihre Keuschheit bis zum rechten Zeitpunkt zu bewahren -  eingesperrt hatte, in ihrem Turmzimmer täglich den schönen Prinzen:
 
            So lebten sie lustig und in Freuden eine lange Zeit, und die Fee kam        
            nicht dahinter, bis eines Tages Rapunzel […] zu ihr sagte:
           „sag' sie mir doch Frau Gothel, meine Kleiderchen werden mir so eng.“
 
Die Fee verbannt sie in einen Wald, „wo […] sie nach Verlauf einiger Zeit Zwillinge gebar.“ Nach der empörten Kritik einiger besonders prüder Rezensenten, die solch deutliche Anspielungen als kinderverderbend werteten, versuchte Wilhelm Grimm, die von ihm und den Rezensenten natürlich deutlich und richtig verstandenen Anspielungen auf ein vergnügtes Sexualleben mit entsprechenden Folgen zu 'entschärfen, so daß man in der bis heute in der immer wieder nachgedruckten KHM- Auflage Letzter Hand nichts mehr von zu eng werdenden Kleiderchen liest, wohl aber, daß Rapunzel bei der ersten Begegnung mit dem Prinzen im Turm „erschrack“, doch ganz schnell
 
            verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte ob sie ihn zum     
            Manne nehmen wollte […], sagte sie ja und legte ihre Hand in seine        
            Hand.
 
Das ist nun freilich eine verbindliche Eheschließung, bevor es auch hier zu sexuellen Fröhlichkeiten kommt, denn der Prinz verabredete sich nach der 'Trauung' mit Rapunzel, „alle Abende zu ihr zu kommen.“ Nach der finalen Wiederbegegnung des Prinzen mit seiner Frau und den inzwischen geborenen Zwillingen „führte er sie in sein Reich, [...] und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt.“
 
Es ist wohl deutlich geworden, daß „vergnügt“ in den KHM fast immer auch als Anspielung auf eheliche Freuden aufzufassen ist. Selbst vom biederen  „Klugen Schneiderlein“ heißt es am Ende: „die Prinzessin ward ihm an die Hand getraut und lebte er mit ihr vergnügt wie eine Heidenlerche. (Wers nicht glaubt, bezahlt einen Taler.)“
 
Wilhelm Grimm war offenbar zufrieden, daß mit „vergnügt“ ein scheinbar ganz unverdächtiges Hüllwort für Dinge und Situationen gefunden war, die man im prüden 19. Jahrhundert nicht beim Namen nennen durfte.
 
Das auch bei diesen Themen viel weniger zimperliche Volkslied spricht die Dinge dagegen unverhüllt aus:
 
                        Jetzt bin ich wieder recht vergnügt,
                        Weil mein Schatz bei mir ist.
 
Aber das ist ein anderes Thema.
 
 
            © Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021