Der Große Conrady

Das Buch deutscher Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart

von Frank Becker
Der Große Conrady
in neuer Ausgabe
 
Als der Große Conrady 1977 zum ersten Mal im Athenäum Verlag erschien, eroberte diese für jedermann gedachte, ungewohnt umfangreiche Lyrik-Anthologie im Handumdrehen einen festen Platz in den Regalen und auf den Schreibtischen aller, die sich mit Lyrik auseinandersetzen wollten und sogar derer, die das wissenschaftlich mußten.

Zum einen 1.200 Jahre deutscher Dichtung umfassende Anthologie für den Hausgebrauch, zum anderen aber auch durchaus Handbuch für Literaturwissenschaftler und Germanisten boten die 1.148 Seiten auf Dünndruckpapier einen Querschnitt, wie ihn bis dahin kein Sammelwerk deutscher Lyrik hatte bieten können. Gewiß, kein Buch zum Mitnehmen in den Park, um unter schattigen Bäumen romantische oder elegische Gedichte zu lesen und auch nicht als Gutenacht-Lektüre im Bett geeignet – immerhin wog „Der Conrady“ damals bereits 1.914 Gramm. Heute ist es übrigens bei unwesentlich kleinerem Format und jetzt 1.378 Seiten nur ein Gramm mehr. Aber das nur am Rande.

Karl Otto Conrady schrieb im Vorwort zur ersten Auflage, die den Untertitel „Das große deutsche Gedichtbuch“ hatte, daß es ein Lesbuch sei, das nicht nach persönlichem Geschmack ausgewählt wurde, sondern den Leser in den Stand versetzen solle, selber zu bestimmen, was ihm aus der Fülle der Lyrik der Jahrhunderte entspreche. Daß das eine oder andere dennoch dabei auf der Strecke bleiben mußte, denken wir nur an DDR-Autoren, die nicht zum Abdruck beim Klassenfeind freigegeben wurden, lag auf der Hand. Eine Auswahl und sei es auch eine noch so großzügige bleibt immer eine Auswahl. Übrigens: die 1977 vermißten DDR-Autoren sind seit der ersten Neuauflage 2000 dabei. Dabei sind jetzt auch Autoren, die zur Zeit der ersten Drucklegung noch nicht geboren waren, in den Windeln steckten oder die ersten Grundschulklassen durchliefen. Karl Otto Conrady hat den Puls der Zeit gemessen und sich auch neuer Ausdrucksformen und Formen moderner Publikation wie dem Poetry-Slam bedient. Natürlich muß auch hier aus dem großen Topf der Lyrik-Produktion mit löchrigem Löffel geschöpft werden. Conrady hat es sich bei den Folgeauflagen nicht leichter gemacht - nein, denn man erfährt bei der Lektüre des im Vergleich zu vorher wesentlich umfangreicheren Vorwortes sein heftiges Ringen mit Begriffen, Definitionen und Kategorisierungen, seine Auseinandersetzung mit Meinungen anderer Herausgeber und Wissenschaftler.

Der neue „Große Conrady“ ist kein überarbeitetes Folgeprodukt mit kleinen Änderungen, eine „nur“ revidierte Neuausgabe - er ist ein völlig neues Buch geworden. Das beginnt mit der Auswahl, will sagen der Berücksichtigung der erwähnten Autoren, zu deren Nomenklatur eine Vielzahl neuer Namen hinzugekommen ist, während andere den Zeitläufen zum Opfer fielen. Auch die mit den Namen von als „Standard“ verbliebenen Lyrikern verbundenen Texte haben in ihrer Auswahl teils Veränderungen erfahren: Texte fielen weg oder wurden hinzugefügt. Zudem sind chronologische Korrekturen vorgenommen worden, die den Gesamtaufbau verändern. 2.200 Gedichte von mehr als 600 Dichterinnen und Dichtern werden von den silberschimmernden soliden Buchdeckel eingefaßt. Damit ist der Besitzer des „Großen Conrady“ von 1977, der sich jetzt den neuen zulegt, vor das Problem gestellt, auf keinen von beiden verzichten zu können. Bei einer geschätzten Überschneidung/ Gleichheit beider Bände von 75 % bleiben immerhin 25 % Neuerung/ Änderung in beiden Richtungen. Ein Band hätte das alles wohl nicht fassen können. Also: beide behalten! Damit hat man dann ein wuchtiges Doppel-Kompendium, das in der Tat die deutsche Lyrik von den Anfängen mit dem Wessobrunner Gebet des 9. Jahrhunderts bis zu Nora Bossong und Ann Cotten (*1982) umreißt. Und während Karl Otto Conrady den Band mit dem neuen Untertitel „Das Buch deutscher Gedichte“ für seinen neuen Verlag Patmos - Artemis & Winkler zusammenstellte, es gedruckt wurde, ich das hier schreibe und Sie es lesen - hat sich die Lyrik wiederum weiterentwickelt, zeigen sich neue Talente auf der Plattform der Literatur und könnte die Geschichte der deutschen Lyrik fortgeschrieben werden.

Der neue „Große Conrady“ wird seinem seit 1977 guten Ruf aufs Neue gerecht. Als wichtiger Baustein einer wohlsortierten Bibliothek eine lohnende und empfehlenswerte Anschaffung.

Karl Otto Conrady, „Der Große Conrady - das Buch deutscher Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart“, 1.378 Seiten, Leinen, mit Autoren-, Inhalts- und Stichwort-Verzeichnissen, Verzeichnis der Gedichtüberschriften und Gedichtanfänge, Textnachweisen sowie Wort- und Sacherklärungen, zwei Lesebändchen
© 2008¹ Artemis und Winkler, 39,90 € (D), 41,10 (A), 66,- SFr, (Einführungspreis bis 31.1.2009), ab 01.02.2009: 49,90 Euro (D), 51,30 Euro (A), 82,50 SFr - ISBN 978-3-538-04004-5  

Weitere Informationen unter: www.artemisundwinkler.de