Von der Dankbarkeit

- eine Fabel Lessings -

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Von der Dankbarkeit

- eine Fabel Lessings -
 
Von Heinz Rölleke
 
Gotthold Ephraim Lessing ist am 15. Februar 1781 vor 240 Jahren gestorben. Er zählt zu den bedeutendsten deutschen Dichtern, und seine Bühnenwerke („Emilia Galotti“, „Minna von Barnhelm“, „Nathan der Weise“) sind die ältesten, die immer noch in den deutschen Spielplänen präsent sind. Er brachte die seit der Antike sehr populäre Gattung der Tierfabel in Deutschland noch einmal zu einem Höhepunkt; seine wunderbare Prosa, die er trotz der sich selbst abverlangten radikalen Kürze der lehrhaften Geschichten in diese einbrachte, ist immer noch unschwer und mit Genuß lesbar und klar verständlich. Daß die Sammlung bis heute viel gelesen wird, erweist sich an meiner Ausgabe als Reclam-Taschenbuch, die 1967 erschien und in vielen Auflagen nach über einem halben Jahrhundert immer noch kontinuierlich auf dem Buchmarkt präsent ist.
 
1759 veröffentlichte der Dreißigjährige „Fabeln. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts“, darunter „Die Eiche und das Schwein“, zu der er ausnahmsweise keine Quelle angab, so daß sie wohl ganz auf ihn zurückgeht.
 
Die Eiche und das Schwein
Ein gefräßiges Schwein mästete sich unter eine hohen Eiche mit der herabgefallenen
Frucht. Indem es eine Eichel zerbiß, verschluckte es bereits eine andere mit dem Auge.
Undankbares Vieh! rief endlich der Eichbaum herab. Du nährest dich von meinen
Früchten, ohne einen einzigen dankbaren Blick auf mich in die Höhe zu richten.
 Das Schwein hielt einen Augenblick inne und grunzte zur Antwort:
Meine dankbaren Blicke sollten nicht außenbleiben, wenn ich nur wüßte,
daß du deine Eicheln meinetwegen hättest fallen lassen.
 
Dieses Schwein wurde, wie jahrhundertelang üblich, zur Eichelmast unter die Bäume getrieben. Sein Benehmen dort scheint alle Vorurteile zu bestätigen, die man lange Zeit gegen das nützliche Haustier hegte. Wer je ein Schwein gierig und grunzend beim Fressen erlebt hat, kann Lessings genaue Beobachtungsgabe nur bewundern: Das Schwein „mästet sich“, das heißt, es frißt ohne Maß und Ziel, und dabei ist es („mit dem Auge“) immer schon auf eine möglichst nahtlose Fortsetzung seiner Fresserei bedacht. Schweine pflegen ihre Mahlzeit zuweilen plötzlich und geradezu ruckartig für einen Augenblick zu unterbrechen - man weiß nicht warum -, doch danach wird umso eifriger weiter gekaut und geschlungen. All das macht das Tier nicht eben sympathisch, zumal hier als einzige Eigenschaft seine „Gefräßigkeit“ genannt wird. Auch so gepflegt und hoheitsvoll wie der Eichbaum kann oder will es nicht sprechen, vielmehr „grunzt“ es zwischen zwei Bissen unhöflich und frech nach oben zu dem „hohen“ Baum hinauf. Wie schon im Eingangssatz das Adjektiv („gefräßig“) sogleich im Prädikat Bestätigung („mästete sich“) findet, wie die Geschiedenheit der Sphären in der Präposition („unter“) und im zweiten Adjektiv („hoch“) deutlich werden, zeigt in höchster Verdichtung Lessings Prosakunst – umso überraschter stellt der Leser am Ende der Fabel fest, daß ihm der Dichter mit dieser Exposition in Wirklichkeit ein allgemeines Vorurteil scheinbar unwiderleglich suggeriert hat, das dann ebenso schlagend und überraschend eindeutig widerlegt wird. Diese Endkonstellation ist behutsam vorbereitet worden, wenn es heißt, die Eiche habe ihre Frucht „herab“ (und nicht „hinab!) geworfen.
 
Das läßt stutzen, denn der Leser wird so unvermerkt in die Perspektive des Schweines hineingezogen; er muß sie übernehmen, um das Tier zu verstehen. Man steht bei dem kurzen Dialog unweigerlich unten und damit zugleich auf der Seite des Siegers im Wortwettstreit – denn wer in Streitgesprächen, vor allem in der Fabel, das letzte Wort behält, hat auch traditionell recht (so zum Beispiel in Lessings Fabel „Die Eule und der Schatzgräber“; vgl. Musenblätter am 23.06.2020). Damit wird man indirekt aufgefordert, seine Vorurteile zu überdenken und sich mit dem Argument des Schweines zu beschäftigen.
 
Wie häufig in seinen Fabeln, so formuliert Lessing auch hier am Ende kein 'Fabula docet' ('diese Fabel lehrt'). Er ist überzeugt, daß die Lehre, auf die alles ankommt, sich dem Leser überzeugender und besser einprägt, wenn er sie selbst gefunden hat. Dabei werden von der Intention des Dichters abweichende Resultate im Sinn des aufklärerischen Toleranzgedankens in Kauf genommen. Was könnte also diese kleine Tierfabel lehren? Dem Menschen begegnen lebenslänglich Personen und Institutionen, die von ihm Dankbarkeit einfordern. Diese ist jedoch nur angemessen, wenn die Hilfe oder die Gabe freiwillig gegeben wird. Der Empfänger ist absolut nicht zur an sich schönen und hier keinesfalls verächtlich gemachten Tugend der Dankbarkeit verpflichtet, wenn der Spender eben nicht freiwillig und uneigennützig zugunsten des Empfängers handelt. Folgt dieser einer Naturnotwendigkeit, so kann er keine Dankbarkeit einfordern. Die Eiche kann nicht anders, sie muß ihre Früchte im Herbst abwerfen; die Eltern sind verpflichtet, ihrem Kind zugetan zu sein; der Lehrer kann kraft seines Amtes so wenig anders als der Geistliche handeln, er muß die Jugend lehren. Diese Denkweise wird man unschwer und gewiß im Sinn Lessings auf Institutionen wie den Staat, die Schule oder die Kirche und in quasi blasphemischer Form sogar auf den Schöpfergott anwenden können: Er kann so wenig wie die Eltern Dank dafür einfordern, daß er einen Menschen ohne dessen Willen ins Leben gerufen hat. Wenn der Mensch sich denn bedankt – umso schöner, aber eine Notwendigkeit dazu besteht nach Lessings und der Aufklärer Meinung nicht. Heinrich Heine, der sich selbst als legitimen Nachfolger der Aufklärung sah, hat es auf seine eigene, bissig ironische Weise formuliert, als er kurz vor seinem Tod gefragt wurde, ob er vom Schöpfer Gnade erwarte: „C'est son métier“, das heißt: Er kann nicht anders.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021