Tabuwörter und Euphemismen in der Sprachentwicklung

Von ihrer Art und Bedeutung

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Tabuwörter und Euphemismen
in der Sprachentwicklung
 
Von ihrer Art und Bedeutung

Von Heinz Rölleke
 
Die bis ins vierte Jahrtausend v. Chr. anzusetzende indogermanische Ursprache ist nicht belegt, aber relativ gut rekonstruierbar. Sie gliederte sich ab etwa 3000 v. Chr. in viele Einzelsprachen auf. Diese übernahmen zunächst (in leicht abgewandelten Formen) die im Indogermanischen geläufigen Bezeichnungen. So sind etwa in allen altindischen, germanischen, romanischen und slawischen Sprachfamilien aus denselben Wurzeln entwickelte Formen bis heute durchgängig als urverwandt anzusehen, während im Lauf der Zeit für neu zu benennende Phänomene (die man im Indogermanischen noch nicht kannte) durchaus verschiedene Ausdrücke aufkamen. Beibehalten wurden aber natürlich viele Benennungen wie „Vater“, „Mutter“, „Rad“ oder „Achse“, die sich über das Altgriechische und Lateinische bis in die heutigen einzelsprachlichen Ausprägungen deutlich erkennbar erhalten haben.
 
Die Wanderung des Worts „Vater“ von den Anfängen bis ins heutige Deutsch oder Englisch läßt sich beispielhaft gut nachzeichnen (erschlossene Formen des Indo- und des Urgermanischen werden mit einem Asterisk* gekennzeichnet).
 
            idg. *pǝtér urgerm. *fádér altind. pitár altgriech πατέρ (PATER)
            lat. pater ahd. fater mhd. vater nhd. Vater engl. father
             
Die Worttradierungen von „Mutter“ und zahlreichen anderen Verwandtschaftsnamen läuft nach denselben Gesetzen ab. Aufschlußreich ist, daß sich die für das Indogermanische sicher erschließbare Bezeichnungen erkennen lassen, welche Lebewesen, Dinge, Tätigkeiten usw. seinerzeit bekannt waren. Schon die Indogermanen kannten also das „Rad“ wie die „Radachse“; das Ursprungswort *rátha (vgl. lateinisch rota) hat sich bis hin zum neuhochdeutschen Rad gehalten. Gleiches gilt für idg. *áhsa (altgriech. ἀξồν (AXON), lat. axis, ahd. ahse, nhd. Achse). Das ist ein sicheres Zeichen, daß die Erfindungen von Rad und Achse und ihre Bezeichnungen bis ins vierte Jahrtausend zurückreichen.
 
Selbstverständlich gab es im Indogermanischen schon ein Wort für „Kind“, das aber offenbar in keine der später entwickelten Einzelsprachen übernommen wurde. Entweder war die Bezeichnung schon früh ins Tabu geraten (das heißt, man hütete sich, das Neugeborene direkt und mit einem bekannten Namen zu bezeichnen, weil man darin eine Gefährdung für dessen Leben sah), oder in den aus dem Indogermanischen hervorgegangenen Einzelsprachen hat man sich gescheut, das Wort zu übernehmen und hat es stattdessen durch verschiedene Neowörter ersetzt. Ein Wort kommt ins Tabu und wird durch einen Neologismus ersetzt, und hier wie zu erwarten in jeder Sprache anders. Diese neuen Bezeichnungen erweisen sich fast allesamt als Umschreibungen; man wollte und durfte die Sache offenbar nicht 'beim Namen' nennen. Man erfand 'Hüllwörter', die das Gemeinte nicht ohne weiteres erkennen ließen. Altgriech. τέκνον (TEKNON, das Erzeugte), lat. infans (das, was noch nicht sprechen kann), ahd. barn (vom Verb beran/tragen abgeleitet, also das Ausgetragene; vgl. skand. Born), engl. child (das aus dem Mutterleib Gekommene). Schon im Althochdeutschen ist sporadisch das Neowort „chind“ belegt, das sich nach etwa fünf Jahrhunderten durchgesetzt hat und das Nebeneinander von altem „barn“ (bis heute im Dänischen) und neuem „kind“ beendet. Die Bezeichnung „barn“ war ihrerseits endgültig zum Tabu geworden. Das Ersatzwort „Kind“ bezeichnet ursprünglich bewußt unscharf irgendein nicht näher bestimmtes Wesen (vgl. engl. „kind“ - 'eine Art von irgendetwas'). Die Sprachhistoriker vermuten wohl mit Recht, daß es sich bei diesem dauernden Bezeichnungswechsel bei der Benamung „Kind“ und bei einigen anderen Nennungen um eine Schutzmaßnahme handelt: Man wollte die Ankunft oder Existenz eines Kindes nicht „beschreien“, nicht laut werden lassen, man fürchtete, sonst dämonische Mächte - denen man Schuld an der hohen Sterblichkeitsrate der Säuglinge und deren häufigen Mißbildungen gab - auf das Neugeborene aufmerksam zu machen, dessen Namen man ebenfalls zunächst aus demselben Grund geheim hielt. Zahllose Mythen, Sagen und Märchen handeln die Jahrhunderte hindurch von solchen Dämonen (Lilith, Rumpelstilzchen), die darauf aus sind, das Kind zu töten, es für sich zu gewinnen oder ihre eigenen mißgebildeten Nachkommen gegen gesunde Menschenkinder auszutauschen („Wechselbalg“). Indem man die Bezeichnungen wechselte, glaubte man den Dämon irritieren und ihm entgehen zu können.
 
Ich habe um 1965 selbst noch etwas von der Zähigkeit dieser urtümlichen Vorstellungen erleben können, als eine junge, aus der Großstadt zugezogene Mutter ihr Neugeborenes im Kinderwagen auf den Straßen eines niederrheinischen Dorf spazieren fuhr. Wie üblich sammelten sich einige alte Frauen um das Kind, und es entspann sich folgender Dialog: „Is dat üer Keng?“ - „Ja, das ist unser Fritz.“ - „Ah, schön, dann isse ja schon jetauft.“ - „Nein, das soll erst nächste Woche sein.“ - „O weh, dat bringt ever Unjlück. Jetzt hant ir schon den Namen laut jesat, und dat och noch unter freiem Himmel – nee, nee, nee!“ - „Warum soll das denn Unglück bringen?“ - „Dat wisse mer och nit, ever et is su!“ Ich fühlte mich gleich an einige Bibelstellen erinnert. Der Erzengel Gabriel spricht zu Maria: „Du wirst einen Sohn gebären, des Namen sollst du Jesus heißen […].“ Als nach der Geburt „acht Tage herum waren, und das Kind beschnitten wurde, da ward sein Name genannt Jesus“ (Luk. 1.31 und 2.21). Wohlgemerkt: Der Name wird nicht vor der Beschneidung, an deren Stelle im Christentum die Kindertaufe trat, genannt! So ist es eben auch heute noch vielfach üblich, den Namen eines Neugeborenen nicht vor seiner Taufe offiziell zu benennen.
 
Ähnlich steht es um die Bezeichnung des Grundnahrungsmittels „Milch“, das die Indogermanen natürlich gekannt und benannt haben. Auch dieses Wort ist nicht rekonstruierbar. In den einzelnen indoeuropäischen Sprachfamilien traten jedenfalls unterschiedliche Begriffe an ihre Stelle: altgriechisch γάλα (GALA); romanisch lac lateinisch (französisch lait; ital. Latte); germanisch milch nhd. (ahd. miluch, mhd. milich; engl. milk; isländisch mjölk, schwedisch mjolk, dänisch mælk); slawisch monoko (russisch).
 
Das Namenstabu betrifft Wesen oder Dinge, die als Gefährder, die man fernhalten, und Gefährdete, die man schützen will. Es galt als gefährlich, etwa den Namen eines Dämons oder eines Raubtiers laut auszusprechen, denn „wenn man den Wolf nennt, kommt er gerennt“, oder wenn man sich den Teufel leichtsinnig beruft, so nennt man ihn gleich mit dem Namen der Abwehrformel„Gottseibeiuns“. Die indogermanischen Bezeichnungen des Wolfs oder des Bären sind nicht rekonstruierbar. Auch diese Namen der für Menschen und ihr Vieh besonders gefährlichen Tiere gerieten ins Tabu. Die Neologismen in den einzelnen Sprachen sind häufig wieder vorsichtig umschreibende Hüllwörter, mit denen die Tiere sich nicht angesprochen fühlen sollten: So wurde der Bär bewußt vage der „Braune“ genannt, im Russischen „medvédj“ (Honigesser); der Wolf wurde unscharf genug als der „Graue“ bezeichnet, und die Hirten benannten ihn lieber erst gar nicht (in einem barocken Kirchenlied des Friedrich Spee heißt er in auffällig umständlicher Umschreibung : „der, den der Hirt nicht nennt“).
Am Rande: Ein Theater-Aberglaube verbietet es nahezu bei Körperstrafe strikt, hinter der Bühne den Namen von Shakespeares Drama „Macbeth“ auszusprechen – es heißt stets: „Das englische Stück“.
 
Vieles wäre zu sagen davon; stattdessen soll noch ein Blick auf die Euphemismen geworfen werden, die zum Teil in ähnlicher Funktion in alle indogermanische Einzelsprachen Einzug gehalten haben. Man will sich einen potentiellen Schädiger (ob mythisches Wesen oder bloßer Gegenstand) geneigt machen, indem man ihn mit Schmeichelnamen belegt. Im griechischen Mythos hießen die Rachegöttinen Erinnyen (die fürchterlich und unentgehbar Wütenden), euphemistisch wurden sie Eumeniden (die Wohlgesinnten Gütigen) genannt. Das stets Unheil drohende Schwarze Meer wurde mit der Bezeichnung Πόντος Εὑξείνος (gastfreundliches, wirtliches Meer; lateinisch Pontus Euxinus) gut gestimmt, und das Kap der guten Hoffnung war der Erfreuliches verheißende Schmeichelname der immer von den Seeleuten besonders gefürchteten Felsküste an der Südspitze Afrikas, wo manches Schiff hoffnungslos unterging. Das griechische Wort für die eigentlich stets abergläubisch gefürchtete linke Seite εùώνομος meint schmeichelnd „glückverheißend“. Das mittelhochdeutsche Wort für „links“ winster bedeutet wörtlich „günstig, Gutes verheißend“. Auch hier sucht man sich die gefürchtete dämonische Kraft geneigt zu machen, denn im deutschsprachigen Raum wurde ebenfalls lange Zeit hindurch allem, was „links“ war, eine pejorative Bedeutung zugeschrieben; das reicht bis an unsere Gegenwart heran, indem man den Linkshändern mißtraute oder die Kinder anhielt, nicht das linke, sondern „das schöne Händchen“ zu geben.
 
Wie es mein verehrter akademischer Lehrer zusammenfaßte: „Wesen oder Dinge, die dem Menschen als Sitz dämonischer Kräfte gelten, müssen immer erneut das Schicksal des Worttausches erfahren.“
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021