Was ist denn aus dem ... geworden?

Heinz Rölleke gewidmet

von Joachim Klinger

Thomas Schleusing pinx. - © Brigitte Schleusing 
Was ist denn aus dem ... geworden?

Heinz Rölleke gewidmet
 
Bei manchen Märchen wünscht man sich eine Fortsetzung, z.B. beim Gestiefelten Kater (und es gibt sie ja wirklich). Bei anderen möchte man gern wissen, was aus diesem oder jenem, der eine tragende Rolle gespielt hat, geworden ist. Wie ist es beispielsweise dem kleinen Jungen ergangen, der gerufen hat: „Der Kaiser hat ja gar nichts an!“? Das stimmte zwar und öffnete allen die Augen, aber es war auch eine unerhörte Störung des feierlichen Umzugs seiner Majestät. Was geschah daraufhin mit dem vorlauten Knirps? Wie ertrug der Kaiser die öffentliche Bloßstellung? Hört zu, ich will euch das erzählen!
 
1

Als die Menge in Bewegung geriet, aus dem Tuscheln Gebrüll wurde, als die Polizei einschritt und sich der Kaiser im Schutz des Militärs davon machte, griff die Mutter ihren Jungen beim Arm und zerrte ihn in eine Nebenstraße. Sie hielt ihn fest, bis sie in großer Eile das Haus erreicht hatten, in dem sie wohnten. Dort angekommen, verprügelte die Frau den Jungen nach Strich und Faden. „Wie konntest du mir das nur antun?!“ keuchte sie schließlich mit puterrotem Gesicht. „Aber der Kaiser hatte doch wirklich gar nichts an!“ jammerte ihr Sohn. „Wenn der Kaiser kommt, hält man entweder den Mund, oder man schreit aus Leibeskräften „Hurra!“, sagte die Mutter und machte sich am Herd zu schaffen.
Aber damit war der Vorfall noch längst nicht erledigt. Das Ereignis war Stadtgespräch und blieb es tagelang.
„Gott, sie ist eine arme Witwe“, sagte eine alte Nachbarin, „und es ist schwer, einen Jungen wie diesen zu erziehen.“ „Wenn die starke Hand des Vaters fehlt, sind manche Mütter geradezu hilflos“, meinte eine andere.
„Unsinn“, rief eine Dritte, „wir Frauen sind doch nicht schwach und können sehr wohl mit dem Nachwuchs fertig werden!“
Die Männer gaben sich noch strenger. „Ich wüßte meinem Sohn eine Lektion zu erteilen“, meinte einer und machte eine entsprechende Handbewegung. „Man muß die Kinder zum Gehorsam erziehen“, sagte ein anderer. „Disziplin ist alles“, nickte ein Dritter, und alle murmelten beifällig.
Als man die Erziehungsfrage abgehandelt hatte, kam man auf die Mutter zu sprechen und sparte nicht mit Kritik. Die Aussprache gipfelte in dem Urteil: ein liederliches Weib. Das war schlimm.
 
Die Leute reden zu gern über ihre Mitmenschen, betonen angebliches Versagen und Fehlverhalten. Das hilft ihnen über ihre eigene Unzulänglichkeit hinweg und hat etwas Befriedigendes.
Als der Mutter des vorlauten Jungen das Geschwätz und der Klatsch zu viel wurden, packte sie ihre Habseligkeiten und lud sie auf einen Handkarren. Dann nahm sie das Kind bei der Hand und verließ die Stadt für immer.
 
2

Und der Kaiser? Seine Herrschaft war stabil, denn das Militär stützte ihn. Die Staatsdiener zeigten sich treu ergeben, der Handel gedieh, und die Leute hatten ihr Auskommen. Kein Grund zur Unzufriedenheit, kein Gedanke an Empörung. Wenn hier und da einmal über den Kaiser gespottet wurde, dann sorgte das Erscheinen eines Polizisten für Ruhe.
Der Kaiser selbst aber tobte. Er schämte sich, daß er auf die betrügerischen Schneider hereingefallen war. Die öffentliche Bloßstellung erfüllte ihn mit Wut. Das Versagen seiner Berater machte ihn äußerst zornig.
In seinem Palast warf er zunächst einmal einen Löwen aus chinesischem Porzellan an die Wand. Das war nicht weiter schlimm. Es gab noch ungefähr 200 davon. Die Kammerherren hatten vorgesorgt; man war an Zornausbrüche des Kaisers gewöhnt.
Dann entließ der Kaiser seinen alten Minister und alle kaiserlichen Räte ohne Pensionsanspruch.
Danach hatte er sich etwas beruhigt. Er rief seinen alten Hauslehrer, der im Schloß wohnte, und beauftragte ihn, eine strenge Ausbildungsordnung für Schneider zu entwerfen.
Als sich beim Kaiser Leibschmerzen einstellten, untersuchte ihn sein Arzt gründlich, kam aber nicht zu einem bedenklichen Befund. „Majestät sollte eine kräftige Mahlzeit zu sich nehmen, das wird den nervösen Magen beruhigen“, riet er.
Das hörte der Kaiser nur zu gern, und er ließ seine Lieblingsspeisen auftragen. Als er reichlich getafelt hatte, hob sich seine Stimmung. Außerdem ging er in den nächsten Tagen auf die Jagd und fand so Ablenkung und Entspannung.
Mit der Zeit besserte sich seine Gemütslage. Er bewilligte den entlassenen Räten auf dem Gnadenwege ihre Pension und holte sogar seinen alten Minister zurück an den Hof. „Wir wollen es noch einmal versuchen, alter Esel“, sagte der Kaiser versöhnlich.

3

Die Jahre gingen dahin. Aus dem vorlauten Jungen war ein hübscher Jüngling geworden, der nach dem Schulabschluß bei einem Schornsteinfegermeister in die Lehre gegangen war und nun selbst das Diplom eines Ofenreinigers und Kaminkehrers erhalten hatte. Seine Mutter lebte zurückgezogen im Haus von Verwandten, die sie rund um die Uhr betreute. Sie war in der Nachbarschaft beliebt und geachtet.
Der Kaiser war müde geworden und zog sich mehr und mehr von den Regierungsgeschäften zurück. Er hatte die Regentschaft weitgehend in die Hände seiner Tochter gelegt, die zusammen mit ihrem Kind, einem ausnehmend hübschen Mädchen, in einem Seitenflügel des kaiserlichen Schlosses wohnte. Beide waren aus einem entfernt liegenden Land in die Heimat zurückgekehrt. Der Ehemann der kaiserlichen Tochter, von Geblüt ein königlicher Prinz, hatte sich in Abenteuer eingelassen, die sein Leben kosteten. Was hätte die Witwe anderes tunsollen, als bei ihrem Vater Zuflucht zu suchen?
So ging jeder seinen Weg. Aber das Schicksal fügte es, daß diese Wege sich eines guten Tages trafen. Und das kam so:
 
4

Es war wieder einmal ein Volksfest auf dem großen Platz vor dem kaiserlichen Schloß angesagt. Das gefiel dem Volk und dem Kaiser gleichermaßen. Natürlich war nun vor allem die kaiserliche Küche gefordert. Denn neben der Musik sollte allerlei zum Essen und Trinken geboten werden.
Aber als man aus diesem Anlaß im großen Küchenherd das Feuer entfachte, stellte man bestürzt fest, daß der Rauch nicht abzog. Der Kamin war verstopft. Bei den anderen Kaminen im Schloß sah es nicht besser aus. Da fiel dem kaiserlichen Hofmeister ein, daß es im Herbst des Vorjahres einen gewaltigen Sturm gegeben hatte, der Staub und Blattwerk emporgewirbelt hatte. Diese Erklärung half nun freilich nichts mehr, und der kaiserliche Kaminkehrer wurde gerufen.
Dieser war schon recht betagt, klagte über Rückenschmerzen, verwies auf die beträchtliche Höhe der Schloß-Schornsteine und das steile Dach und erklärte sich schließlich außerstande, etwas zu unternehmen.
Daraufhin veranlaßte der Hofmeister eine öffentliche Ausschreibung, und bald leuchteten im ganzen Kaiserreich von vielen Wänden und Mauern rote Plakate, die gegen gute Bezahlung zur Arbeit an den Schloß-Schornsteinen aufforderten. So mancher Kaminkehrer erwog seinen Einsatz, verwarf den Gedanken aber bald wieder, weil ihm die Arbeit zu gefährlich erschien.
Nur der junge Schornsteinfeger, den wir schon als kleinen Jungen kennengelernt haben, zeigte sich bereit, nachdem er sich ausführlich mit seinem alten Meister beraten hatte. „Junge“ so beschloß dieser das lange Gespräch, „lege Leitern auf das Dach, befestige sie gut und vergiß nicht, dich anzuseilen.“ „Das will ich tun“, sagte sein ehemaliger Gehilfe und machte sich auf den Weg.
 
5

Der Kaiser und der gesamte Hofstaat waren hocherfreut, als sich der junge Schornsteinfeger meldete und seine Dienste anbot. Dieser nahm zunächst eine Inspektion der Őfen, Herde und Kamine im Innern des Schlosses vor und sagte, bevor er mit seinen Gesellen auf das Schloßdach stieg: „Alle Kamine in den Räumen müssen zugehängt werden, solange auf dem Dach gearbeitet wird! Schmutz wird nämlich unvermeidbar sein.“
Die Arbeiten dauerten länger, als man gedacht hatte. Noch am Morgen des Festtages kletterte der junge Schornsteinfeger auf den größten und höchsten Schornstein, der wie ein richtiger Turm aussah. Es war der Kamin der Schloßküche. Man hatte hier einen Ausblick ins weite Land. Die sich auf dem Schloßplatz versammelnden Menschen wirkten wie Ameisen.
Das Mißgeschick, das nun in der Schloßküche passierte, hatte allein der Kaiser zu verantworten. Er war von Natur aus neugierig und schaute zu gern in der Küche in die Kochtöpfe. Daß in der Küche kein Personal anwesend war, wunderte ihn. Auch schien gar nicht gekocht zu werden. „Was ist hier los?“ fragte er seine Tochter, die ihm vorsichtshalber gefolgt war, und zog an dem großen Teppich, den man vor den Kamin gehängt hatte. Dieser fiel zur Erde, und im selben Augenblick prasselte Mörtel und Ruß herab, den eine Metallkugel an langer Kette aus der Verstopfung gelöst hatte.
Na, das war eine schöne Bescherung! Pechschwarz standen der Kaiser und seine Tocher da und sahen entsetzt, wie sich der Schmutz in der ganzen Küche verbreitete.
Natürlich stürzten sofort Bedienstete herbei, die Tochter der regierenden Prinzessin fand sich ein, und auch der junge Schornsteinfeger wurde herbeigeholt. Nun, das Verschulden lag offen zu Tage, und so machte man nicht viele Worte. Der Kaiser und seine Tochter mußten die Kleidung wechseln und ein Bad nehmen. Um die Reinigung der Küche kümmerte sich das Personal.
 
Die kleine Prinzessin, die Enkelin des Kaisers, war nicht nur ausnehmend hübsch, sie hatte auch einen klaren Verstand und besaß Tatkraft.
Sie sah den Schornsteinfeger an und sagte „Wir müssen auf den großen Balkon und dem Volk verkünden, daß der Kaiser etwas später kommt, und meine Mutter auch. Die Anwesenheit des Schornsteinfegers wird die Lage erklären, denn jedermann weiß, daß es umfangreiche Arbeiten an den Schloßschornsteinen gibt.“
Der Schornsteinfeger nickte und dachte: „Sie ist nicht nur hübsch. Sie weiß auch, was sie will!“
Also gingen die beiden zum großen Schloßbalkon, auf dem sich der Kaiser bei besonderen Anlässen zu zeigen pflegte.
Als sich die großen Flügeltüren öffneten, bliesen vier kaiserliche Musiker, die sich auf dem Balkon aufgestellt hatten, in ihre Fanfaren. Denn so waren sie es gewohnt, wenn die Türen aufgingen.
Die Leute auf dem Schloßplatz stutzten einen Augenblick. Da war nicht der Kaiser mit seiner Tochter. Da stand die kleine Prinzessin mit einem leuchtenden Diadem auf dem Lockenkopf und neben ihr – kaum zu glauben! – ein junger Schornsteinfeger.
Nach kurzer Überraschung jubelte die Menge den beiden auf dem Balkon zu. Das war doch einmal etwas Anderes – die kleine Prinzessin und der junge Schornsteinfeger!
Die kleine Prinzessin hob ihre rechte Hand und sprach: „Hört zu, liebe Teilnehmer dieses herrlichen Festes! Der Kaiser wird etwas später erscheinen. Und meine liebe Mutter auch. Das hängt mit den umfangreichen und schwierigen Kaminarbeiten zusammen, die nun aber glücklich vollendet sind.“ Sie deutete auf den Schornsteinfeger an ihrer Seite. Der zog seinen Zylinder und verbeugte sich. „Hurra!“ schrie die Menge und klatschte in die Hände.
Die Prinzessin hob wieder ihre Hand und sagte: „Damit ihr euch nicht langweilt, wird das kaiserliche Orchester aufspielen!“ „Bravo!“ rief man.
Da schwenkte der Schornsteinfeger seinen Zylinder und verkündete fröhlich: „Für die Männer gibt es Bier aus dem Faß und Bockwürste aus dem Kessel!“ Das hatte er schon vom Dach aus bemerkt. Beifall vor allem bei den Männern!
 
„Für die Frauen sind Kaffee und Kuchen vorbereitet!“ Die Prinzessin lachte bei dieser Nachricht. „Und für die Kinder Brezeln“, fügte der Schornsteinfeger hinzu. „Aber auch Lakritzstangen“, schloß die Prinzessin.
Die Menge tobte vor Begeisterung. Die Prinzessin sah den Schornsteinfeger an und dachte: Was für ein netter Bursche!
Als der Kaiser mit seiner Tochter eine Stunde später begleitet von Fanfarenklängen auf dem Balkon erschien, war das Fest in vollem Gange, und der Kaiser dankte gerührt für die Ovationen seiner Untertanen. Es war eines der schönsten Volksfeste, das je stattgefunden hat.
 
6

Ja, natürlich hat die kleine Prinzessin später den Schornsteinfeger geheiratet. Das war nach dem großen Volksfest vorauszusehen. Die kleine Prinzessin erwies sich im übrigen als so tüchtig, daß sie später Kaiserin wurde. Wer hätte das sonst machen sollen? Schließlich war sie die einzige Enkelin des Kaisers!
Sie lebte in glücklicher Ehe mit ihrem Schornsteinfeger und bekam fünf Kinder, drei Buben und zwei Mädchen. Der Schornsteinfeger, nun kaiserlicher Gemahl, überließ ihr ganz das Regieren, und das war weise.
Er selbst entwarf Entlüftungsanlagen und bastelte an Ruß-Filtern.
An den Vorfall mit dem vorlauten Jungen und der Blamage des Kaisers dachte niemand mehr. Der Schornsteinfeger erinnerte sich zwar dann und wann. Aber er schwieg.
Über sein Bett hängte er allerdings den gestickten Spruch: „Kindermund tut Wahrheit kund.“
 

© 2020 Joachim Klinger