Sauber, akkurat, temperamentvoll und technisch brillant

Ludwig van Beethoven – „Piano Sonatas“ - Jingge Yan (Klavier)

von Johannes Vesper

Jingge Yan: Beethovens 32 Klaviersonaten
 
Warum spielen Pianisten alle 32 Klaviersonaten Ludwig van Beethovens ein? Wollen sie den pianistischen Gipfel des Parnass, den Sitz Apolls und seiner Musen erreichen, den schon Muzio Clementi mit seinen „Gradus ad Parnassus“ Mühe hatte zu erreichen? Glauben sie mit dem „Neuen Testament“ der Klavierliteratur Erlösung und Seelenfrieden zu finden? Nahezu dreißig Jahre benötigte Beethoven, um sie alle zu komponieren. Kein Wunder, daß sich die Sonaten aus den verschiedenen Lebensepochen musikalisch erheblich unterscheiden. Handelt es sich um „hohe Lieder des Schmerzes und der Freuden“, wie Robert Schumann glaubte? Der 1986 geborene chinesische Pianist Jingge Yan „spürt“ in den Sonaten gar eine Verbindung zwischen Beethoven und chinesischer Kultur und versteht sie als „musikalische Autobiographie“. Jingge Yan ist stolz darauf, sie als erster Chinese in einer Gesamteinspielung zu präsentieren. Die Gesamteinspielung umfaßt 9 CD. Uns geht es heute um CD 1-3.
 
Auf CD 1 finden sich unter der Überschrift „Prestissimo, Grazioso e molto Espressivo“ die 3 Sonaten op. 2 (1-3) die er 1795 seinem Lehrer Haydn gewidmet hat, sowie die Sonate „Les Adieux“ (op. 81a). Schon in der Klaviersonate Nr. 1 mit erstmalig 4 Sätzen zeigte Beethoven, daß Schluß mit Lustig im Sinne höfischen Rokoko-Vergnügens war. Das largo appassionato der Sonate op. 2 Nr. 2 weist im Titel auf die spätere Klaviersonate Nr. 23 op. 57 von 1804 hin. Im C-Dur Kopfsatz der 3. Sonate brechen immer wieder finstere Nachtepisoden in den munteren Fluß ein.
 
Die Sonaten 6,7,10,13,14 (Mondschein) auf CD 2 sind unter dem Motto „sanfte und verfeinerte Liebe“, Frauen gewidmet, die im Leben Beethovens immer eine bedeutende Rolle spielten. Sein Freund Ferdinand Ries schrieb: „Beethoven sah Frauenzimmer sehr gerne, besonders schöne, jugendliche Gesichter und gewöhnlich, wenn wir an einem etwas reizenden Mädchen vorbei gingen, drehte er sich um, sah es mit seinem Glase nochmals scharf an und lachte oder grinste…. Er war sehr häufig verliebt, aber meistens nur auf kurze Dauer." Erstaunlich, daß trotz des ernsten Themas über der CD hier die Sonata Nr. 6 eingeordnet wird mit dem lustigen wie banalem Thema des Presto- Schlußsatzes der einem Spaßlied („Kennst Du die Geschichte von dem Mord im Schloß“) nachempfunden zu sein scheint. Beethovens Humor wäre ein eigenes Kapitel wert. Sein Liebesleben auch. Obwohl äußerlich alles andere als attraktiv, hatte Ludwig mit Brille im pockennarbigem Gesicht, der „häßliche, schwarz und störrisch aussehende junge Mann“ aber trotzdem durchaus Erfolge bei Klavierschülerinnen und Ehefrauen. „Man müßte Klavierspielen können, wer Klavier spielt hat Glück bei den Frauen….“, wie Konrad Beikircher in seinem Beethoven-Programm so schön anmerkt. Gute Voraussetzungen für Ludwig, den Tastenhengst, aber glücklich? Immerhin einmal war er sogar kurzzeitig verlobt mit der Sopranistin Magdalena Willmann, die er schon in Bonn aus dem Orchestergraben, damals noch Bratscher im Orchester, angehimmelt hat. Die Sonate Nr. 10 mit den Variationen im Mittelsatz (erstmalig) und unterhaltsamem Scherzo als Schlußsatz widmete Ludwig der Frau seines Gönners Fürst Lichnowski, der Gräfin Anna Margareta von Browne, die Sonate op. 14,2 einer anderen Baronin. Solche Widmungen waren nicht unbedingt Ausdruck verzehrender Liebe, sondern vielleicht eher ökonomischen Kalküls.
 
Denn wovon lebte Beethoven nach seiner Ankunft in Wien? Von Akademien (Konzerten), Geschenken und Spenden, Stipendien von Fürsten, Verkauf veröffentlichter Werke und Widmungen, die hoffentlich finanzielle Zuwendungen nach sich zogen. Immerhin schlug sich Beethoven ohne feste Anstellung wacker und lebte als freier „Soloselbständiger“ nicht schlecht, konnte 40 mal in Wien umziehen und wäre beinahe gar Generalmusikdirektor in Kassel geworden. Gestartet hatte er mit einem Jahresgehalt von 100 Gulden als 14jähriger Hoforganist in Bonn, leistete sich später ein Reitpferd, immer wieder Besuche bei Prostituierten und hinterließ am Ende trotzdem ein kleines Vermögen von 145.000 € nach heutiger Wertstellung. Natürlich war auch die Mondscheinsonate - wobei der Namen nicht von Beethoven stammt - einer Frau gewidmet. Hinter der „zauberischen“ jungen Giulietta Guicciardi war damals halb Wien her und Ludwig hoffte, daß sie ihn auch liebe. Es kam aber anders und vielleicht war der Ausgang der Affäre in Verbindung mit seiner schon quälenden Schwerhörigkeit und chronischen Bauchbeschwerden der Grund für die schwere Depression, wegen welcher er in seinem Heiligenstädter Testament sogar Suizid erwog.
 
Die CD 3 mit den alle um 1800 entstandene Sonaten 9, 11, 12, 21 (Waldstein) ist überschrieben mit „ppp bis fff“. Daß die Sonate Nr. 9 Op. 14,1 gleichzeitig mit der heroischen Pathétique 1798/99 entstanden ist, hört man ihr nicht an. 1802 hat er sie für Streichquartett bearbeitet. War er mit dem auf dem Klavier erreichten Ausdruck nicht zufrieden? Bei aller Virtuosität im Schlußsatz bleibt das Haltepedal, wie es Beethoven als relativ neue Erfindung (1783) geschätzt haben wird, nicht unbenutzt. Die Agogik erscheint gelegentlich gewöhnungsbedürftig. Die Sonate in As-Dur Nr. 12 (op. 26) lebt von Gegensätzen: Nach umfangreichen Variationen zu Beginn folgt ein kurzes Scherzo vor dem 3. Satz, dem Trauermarsch auf einen Helden, bevor ein munteres Allegro den Schluß bildet. Dieser Trauermarsch kann als Vorbereitung auf den anderen aus der Eroica einige Jahre später angesehen werden.
 
Pianistisch spielt Jingge Yan stets sauber, akkurat, temperamentvoll und technisch brillant. Das Jenseitige Beethovenscher Klaviermusik, die Introspektion und Tiefe seiner aus der Musik aufscheinenden komplexen Psyche wie auch die vom Pianisten vermutete Nähe zu chinesischer Kultur sind auf diesen CDs kaum spürbar. Vielleicht bleiben solche Erlebnisse aber auch der unmittelbaren Begegnung von Publikum und Pianist im Konzert vorbehalten.
 
Ludwig van Beethoven – „Piano Sonatas“ - Jingge Yan (Klavier)
© 2020 Fontenay Classics, Drei CD, Essay (Englisch, Deutsch, Chinesisch) vom Pianisten und sein Lebenslauf im Beiheft.
Stücke:
CD 1: 1-4 Sonata Nr. 1 f-moll, op. 2,1, - 5-8 Sonata Nr. 2 A-Dur op. 2,2 – 9-12 Sonata Nr. 3 C-Dur op. 2,3 – 13-15 Sonata Nr. 26 Es-Dur op. 81a “Les Adieux”.
CD 2 : 1-3 Sonata Nr. 6 F-Dur op. 10,2 – 4-7 Sonata Nr. 7 D-Dur op. 10,2 - 8-10 Sonata Nr. 10 G-Dur op. 14,2 – 11-14 Sonata Nr. 13 Es-Dur op. 27,1, - 15-17 Sonata Nr. 14 cis-moll op. 27,2 („Moonlight“)
CD 3 : 1-3 Sonata Nr. 9 E-Dur op. 14,1 – 4-7 Sonata Nr. 11 B-Dur op. 22 – 8-16 Sonata Nr. 12 As-Dur op.26 – Sonata Nr. 21 c-Dur, op. 53 »Waldstein ».
Gesamtzeit : 4 :10 :26
 
Weitere Informationen: www.fontenayclassics.com