Leider nicht fiktiv, sondern eher faktisch

Wolfgang Schorlau – „Kreuzberg Blues“

von Johannes Vesper

Leider nicht fiktiv, sondern eher faktisch
 
Denglers 10. Fall: Kreuzberg Blues
 
Die ist schon ziemlich ekelig, die fette Ratte über der kleinen Lena nachts im Kinderbettchen. Matze, der Mann fürs Grobe mit schwarzem Ferrari, hatte 20 aggressive Ratten -einen ganzen Käfig voll- im Hausflur des Plattenbaus in Kreuzberg nachts ausgesetzt. Warum? In wessen Auftrag? Im Auftrag der Vermieterin? Damit beginnt dieser Berliner Krimi aus dem Milieu der Wohnungskonzerne und des Mietenwahnsinns. Die Deutsche Eigentum AG arbeitet nicht ausreichend profitabel. Großinvestor Blackhill aus New York feuert den CEO (Chief Executive Officer, Geschäftsführer, Anm.) stante pede und der neue erläutert sein todsicher erfolgversprechendes Konzept zur Gewinnsteigerung: NoinVest, also einsparen jeglicher Reparaturen mit Kündigung der mehr als 1000 Hausmeister in den Berlin Objekten. Sollten die Mieter nicht einverstanden sein mit dem zukünftig miesen Service, können sie ja kündigen. Gerade recht, denn bei Neuvermietung wurde die Miete um bis zu 70% erhöht. Aber auch nach der im Mai 2020 beschlossenen Mietpreisbremse darf der Mietpreis immerhin noch um 10% gesteigert werden. Die Bauunternehmung Kröger Immobilien ist abhängig von der Deutschen Eigentum AG und hilft durch Modernisierung bei der „Entmietung“ der Wohnungen. Viele Mieter können danach ihre massiv erhöhte Miete nicht mehr bezahlen. Der CEO der Deutschen Eigentum stand als übergewichtiger und psychopathischer Schüler und Student mehrfach vor Gericht, hatte er doch Mädchen und Kommilitoninnen mit Hilfe von K.o.-Tropfen reihenweise flachgelegt. Dem Kommissar fallen seine kräftigen Falten zwischen Mundwinkeln und dem Kinn auf, die in seiner Familie für extensives Onanieren verantwortlich gemacht wurden. Als Abiturbelobigung hatte dieser CEO und Streber das Werk „Prinzip Verantwortung“ des Philosophen Hans Jonas bekommen, aber nicht gelesen. War deswegen die Charakterbildung mißglückt?
 
Privatermittler Dengler kommt aus Stuttgart und kümmert sich nicht nur um die Mieter, die als Reaktion auf den Rattenangriff eine Mieterinitiative zur Enteignung von Deutsche Eigentum und Kröger & Co. gestartet haben, sondern bald auch um Kröger-Immobilien, die permanent ihre Unschuld beteuern. Dengler kennt sich als Mann aus der Provinz schnell in der Szene Kreuzbergs und Neuköllns aus, begreift die Geschäftsmodelle der Unternehmen, versteht wie Investoren am Wohnungsmarkt frei von Moral und Anstand ticken wie der Teil der deutschen Wirtschaft, der sich wegen bandenmäßigen Betrugs aktuell vor Gericht verantwortet: VW, Audi, Wirecard u.a..m. Es geht immer nur um die Rendite auf eingesetztes Kapital. So nimmt der Krimi Fahrt auf. Dieses Berlin schien ihm spannender als auf Veranlassung von Ehefrauen deren dauernd fremdgehende Männer auf der Automobilmesse in Frankfurt zu überwachen.
 
Ein zweiter Handlungsstrang des Romans ergibt sich aus den Aktivitäten der Organisation Fuhrmann im Bundesinnenministerium. Der Leiter der Gruppe, Dr. Karl Fuhrmann, prüft seine Seele einmal im Jahr bei innerer Einkehr im Kloster Maria Laach bei den Mönchen, muß er doch schlimme Dinge tun, widmet er sich doch aus Verantwortung für Deutschland der großen Aufgabe, mit seiner Organisation dafür zu sorgen, daß Deutschland nicht nach links abrutscht und der Einfluß der AfD gesichert und gestärkt wird. Die Aktualität dieses Handlungsstrangs zeigte sich jüngst bei der Frage nach Infiltration der Polizei durch Rechtsradikalismus und beim Angriff der AfD auf den Bundestag im Zusammenhang mit der Corona-Gesetzgebung. Die sich während der Abfassung des Romans ausbreitende Corona-Pandemie bildet einen dritten Handlungsstrang des Romans. Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker und Querdenker treten auf, treiben zusammen mit anthroposophischen Impfgegnern und Rechtsradikalen ihr Unwesen.
 
Das Ganze ist locker, spannend, routiniert geschrieben und leuchtet differenziert verschiedene Ebenen aus. Durch Abbruch des Erzählungsstrangs in packenden Momenten, mit Wechsel von Ort und Personen wird immer wieder Spannung und Dramatik erzeugt bzw. gehalten. Wolfgang Schorlau, seit 2002 freier Schriftsteller, übernahm 2017 die hoch angesehene Poetik-Dozentur an der Universität Tübingen. Etliche seiner Kriminalromane mit dem ehemaligen BKA Emittler Georg Dengler wurden vom ZDV verfilmt. Er ist bekannt für seine vorzügliche Recherche und bietet unter Angabe der Quellen auch in diesem Roman tiefe Einsichten, wie z.B. eine kurze wie vergnügliche Entwicklungsgeschichte der Menschheit und des Kapitalismus vom „Wohlstand der Nationen“ (1776 Adam Smith) des 18. Jahrhunderts bis hin zum Wahnwitz des aktuellen Neoliberalismus bzw. Wohnungsmarktes in Berlin. Glänzend rechnet der Autor mit Homöopathie und anthroposophischem Irrationalismus ab, der ja wie auch die Querdenkerei in seiner Heimat in besonderer Weise zu Hause ist. In ermittelnden Gesprächen erfährt der Kommissar wie in Waldorf-Kindergärten der Mund mit Seife ausgewaschen worden sei, wenn „Scheiße“ über die Lippen gekommen war. All dies wird elegant und versiert in den spannenden Handlungsfluß eingebaut und quasi nebenbei werden die wichtigsten gesellschaftlichen Probleme dieses Corona-Jahres in diesen spannendem wie unterhaltsamen, leider nicht fiktiven sondern doch tatsächlich eher faktischen Kriminalroman abgehandelt. Sehr empfehlenswert in dunklen Novemberzeiten.
 
Wolfgang Schorlau – „Kreuzberg Blues“
Denglers zehnter Fall
© 2020 Kiepenheuer & Witsch GmbH, 412 Seiten, Gebunden  - ISBN-13: 9783462000795
22,- €
Weitere Informationen:  www.kiwi-verlag.de