Weshalb wir uns Sisyphos am besten glücklich vorstellen...

Anne Weber – „Annette, ein Heldinnen-Epos“

von Johannes Vesper

„Annette, ein Heldinnenepos“
 
Für diesen Roman mit seinem merkwürdigen Titel erhielt Anne Weber, geb. 1964 und seit 1983 in Paris lebend, den Deutschen Buchpreis 2020. Mit dem Titel „Heldinnenepos“ habe sie männlich-kriegerischen Helden den Wind aus den Segeln nehmen wollen, berichtete die Autorin. Auf den letzten Seiten erklärt sie, wie sie an die Geschichte von Anne Beaumanoir, der Titelheldin des Romans, gekommen ist. Diese Anne lebt tatsächlich zweimal, einmal real und einmal als fiktive Romanfigur. Wie weit, wie exakt die in dem Epos erzählten Episoden, Gedanken, Irrtümer Motivationen aus dem Leben der faktischen Heldin übereinstimmt, bleibt offen. Die inzwischen 95jährige, ehemals kommunistische Resistance-Kämpferin während des 2. Weltkrieges und Terroristin (?) im Unabhängigkeitskrieg Algeriens habe sich beim Lesen des Epos nicht wiedererkannt, berichtet die Autorin, die die hochbetagte Frau zufällig kennengelernt und die ihr ihre aufregende Lebensgeschichte erzählt hatte. Diese Erzählung nahm Anne Weber als Grundlage ihres Heldinnenepos. Von dieser Kategorisierung darf man sich nicht abschrecken lassen. Reime gibt es nicht und ein durchgehendes Versmaß auch nicht. Die einfache, unpathetisch- alltägliche Sprache paßt nicht zu einem Epos. Also um ein Epos handelt es sich nur vom Druckbild und vom Titel her. Es liest sich wie ein Roman, hat Tiefe, verschiedene Ebenen, historische wie emotionale, und schlägt einen von Beginn an in den Bann. Einmal angefangen, hört man nicht wieder auf zu lesen.
 
Bezüge zur aktuellen Flüchtlingssituation Syriens, des Tschad, Somalia oder Eritrea erinnern daran, daß trotz der fatalen Situation der Flüchtlinge vor Lampedusa oder den Kanaren sie nicht die ersten waren, die bei Überschreitung von Demarkationslinien zu Tode gekommen sind.
In diesem Epos geht es überhaupt nicht um Helden wie Gilgamesch, Achilleus oder den rasenden Roland, sondern um gens modestes, kleine Leute und vor allem um Annette, eine Frau mit starkem Gerechtigkeitssinn, die als 15jährige von „LaCondition Humaine“ (Andre Malraux) und der Schilderung des Massakers von Shanghai 1927 so fasziniert war, daß sie sich der Resistance anschloß,
 
So klebte sie als Jugendliche zunächst Plakate und warf Flugblätter an belebten Plätzen und Straßen unters Volk bevor sie ein Medizinstudium begann, welches sei jedoch bald wieder aufgab. Immer tiefer drang sie in die Struktur der Resistance ein, verlor ihren Freund, der, als Widerstandskämpfer identifiziert, von französischen Milizen erschlagen und an Ort und Stelle verscharrt wurde, wo heute Reifen-Michelin private Fischgründe für Mitarbeiter unterhält. Mehrfach wieder aus- und eingegraben, wird er endlich militärisch offiziell in Paris begraben und in Anerkennung seiner Resistance-Vergangenheit zum Hauptmann befördert: er, der nur den Judenstern als Orden getragen hat und in Frankreich jahrelang mit dem Ziel verfolgt worden ist, nach Auschwitz geschickt zu werden.
 
Anne Beaumanoir im Roman wußte selbst nicht genau, was sie in den Widerstand getrieben hat. „Weiß man es je, warum man letztlich etwas macht?“ Natürlich wollte sie nicht tyrannisiert werden. Lügen, spitzeln stehlen: heiligt der gute Zweck jedes Mittel? Was muß man davon halten, wenn die Widerstandskämpfer bei Kriegsende mit Kollaborateuren kurzen Prozeß machten und sie ohne weiteres liquidierten? Hat sich ihr Kampf gelohnt? Tatsächlich gelang es ihr, die Nazis in Frankreich zu überleben, hat ihr Medizinstudium absolviert, eine Familie gegründet, Kinder bekommen, als Ärztin gearbeitet. Dann erlebte sie zu ihrem Entsetzen, wie ihr ehemals unterdrücktes Heimatland Frankreich Algerien für Atombombentests skrupellos nutzte und selbst als Unterdrückernation auftrat, im Algerienkrieg 500.000 Tote (davon 95% Nordafrikaner) in Kauf nahm, um möglichst lang Herr der Lage zu bleiben. Als Massaker von Paris ging das blutige und mörderische Niederschlagen einer friedlichen Demonstration für ein freies Algerien auf dem Pariser Pont St. Michel mit mindestens 200 Toten in die Geschichte ein. Entsprechend ihrem Gerechtigkeitsempfinden schloß sich Annette den algerischen Terroristen an und löste sich von ihrer Familie. Mit dem Konflikt als Freiheitskämpferin und Französin gegen die eigene Nation agieren zu müssen, konnte sie kaum fertig werden, sah sie doch Unterdrückung und Judenverfolgung in Frankreich durch Nazi-Deutschland wie die Unterdrückung der Algerier bzw. ihres freien utopischen Sozialismus durch Frankreich als „eine Kontinuität“ gesehen. Sie wird festgenommen, erhält als Terroristin 10 Jahre Freiheitsstrafe und flieht nach Nordafrika. Enttäuscht nimmt sie zur Kenntnis, wie der Freiheitskampf Algeriens nach Entlassung in die staatliche Unabhängigkeit in einen Krieg zwischen algerischen Cliquen und verbrecherischen Familien mündet. Hat sich ihr persönlicher Einsatz dafür gelohnt? Jedenfalls kann Annette mit ihrer Geschichte vielleicht jungen Menschen als Vorbild dienen. Ihr eigenes Erinnerungsbuch erschien unter dem Titel „Le feu de la memoire“ (Das Feuer der Erinnerung) beim Verlag Bouchene 2000 und auf Deutsch („Wir wollen das Leben ändern“) beim Verlag Contra-Bass. Anne Weber schrieb ihre Romane auf Französisch und übersetzt sie dann ins Deutsche. Etliche französische Ausdrücke und Wortbedeutungen werden Im deutschen Text übersetzt und erläutert. Für ihre Übertragungen aus dem Französischen erhielt sie schon 2015 den Johann-Heinrich-Voß Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2020 trat sie ihr Amt als Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim an. Die Schriftstellerin fördert literarisch die Gemeinsamkeiten der beiden großen europäischen Nationen und ihr Verständnis füreinander.
 
Und zuletzt, wie endet das Epos? Albert Camus, der in Algerien geboren wurde, vertrat die Philosophie des Absurden, und sein Held Sisyphos rollte unermüdlich den Stein, hier des Freiheitskampfes, den Berg hinauf, ohne zu ahnen, wie sinnlos dieses Unterfangen bezüglich Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen und der Völker bleibt. So endet der Roman über Annette mit Camus: „Die Abfolge der abgerissenen Handlungen…der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu großen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten glücklich vorstellen“.  
Sehr empfehlenswert.

 
Anne Weber – „Annette, ein Heldinnen-Epos“
© 2020Matthes & Seitz Berlin, 8. Auflage Berlin, gebundene Ausgabe, 207 Seiten - ISBN 978-3-95757-845-7
22,-€

Weitere Informationen: www.matthes-seitz-berlin.de