Der „perfekte“ Leser (1)

Erwin Grosche im Gespräch mit Heike Haase

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Der „perfekte“ Leser (1)
 
Erwin Grosche im Gespräch mit Heike Haase
vom Paderborner „Hasenfenster.de“
März 2020 - Juli 2020
 
Heike Haase: Wir haben uns schon einmal darüber unterhalten, wie deine Arbeit als Autor ist und wie du dazu gekommen bist. Jetzt möchte ich mit dir gerne übers Lesen reden. Und deshalb zu allererst die Frage, was dir das Lesen bedeutet. Wie und wo liest du?
 
Erwin Grosche: Meine wunderbarsten Erlebnisse hatte ich durch das Lesen und Sammeln von Büchern. Ich lese alles, was mir vor die Nase kommt. Okay, die Wirtschaftsseiten einer Zeitung oder humoristische Bücher lese ich nur, wenn ich keinen anderen Lesenachschub finden kann. Das kommt selten vor, kam aber vor. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob es mal eine Zeit gegeben hat, in der ich nicht gelesen habe, dabei ging ich als Kind morgens aus dem Haus und kam erst abends wieder. Im Grunde ist meine ganze Lebensplanung daraufhin ausgerichtet, daß ich immer genügen Zeit zum Lesen habe. Vielleicht ist das Ansehen von Bäumen, das Träumen unter Wolken, das Küssen von Menschen, das Summen von unbekannten Liedern mit dem Lesen verwandt. Der Klang von Wörtern kann schwere Eisentüren öffnen. Meine Eltern hatten eine Bäckerei und einen Lebensmittelladen, in dem auch Zeitschriften verkauft wurden. Ich las dort schon, bevor ich lesen konnte, den „Kicker“ und die Comics vom „Ralf der Sheriff“ (1960-1961). Den „kleinen Prinzen“ las ich auf der Mauer, die heute die Stadtbibliothek umrahmt. Damals habe ich das Buch geliebt, heute sind mir kleine Prinzen genauso unheimlich wie Krankenhausclowns. Die Geschichten von Lucky Luke verschlang ich samstags in der Badewanne. Und das noch zu einer Zeit, als er in dem Comic rauchen durfte. Ich habe schon als Schüler freiwillig Senecas „Von der Kürze des Lebens“ gelesen und fand in einem Antiquariat in der Grube das Buch von Alja Rachmanowa, die eigentlich Galina Djuragina hieß, „Studenten, Liebe, Tscheka und Tod.“ in einer blutroten Ausgabe von 1950. Kein Mensch kannte damals oder kennt heute die Autorin. Vielleicht fing ich damals an, Bücher nicht nach Empfehlungen zu kaufen, sondern sie selbst zu entdecken. Ich habe dieses 500seitige Buch von Alja Rachmanowa nie wieder vergessen, auch wenn ich nicht mehr sagen könnte, was darin stand. Ich weiß genau, wo es in meinem Bücherregal steht und als bei mir mal vor einigen Jahren eingebrochen wurde, war ich froh, daß die dummen Diebe nur Geld gefunden hatten und mein Buch von Rachmanowa unberührt im Regal stehen ließen (genauso wie die einzigartigen Bücher von Walker Percy). „Homo Faber“ von Max Frisch las ich dreimal, mit wachsendem Genuß und die wunderbaren Erzählungen von Salinger sogar in unterschiedlichen Übersetzungen. Annemarie und Heinrich Böll übertrugen sie zuerst ins Deutsche und später übersetzte Eike Schönfeld sie noch einmal. Ich kann nicht sagen, welche Übertragung mich mehr begeistert hat. Salingers Erzählungen sind immer wieder ein Trost, egal in welcher Sprachangleichung. Manchmal gehe ich an meinen Bücherregalen entlang und freue mich schon darauf, daß ich so viele Bücher noch entdecken darf und diese Abenteuerreisen noch vor mir habe. Auch Bücher von meinen Freunden Robert Walser und Christian Morgenstern sind darunter und freuen sich darauf, wenn ich sie besuchen komme. Wenn ich lese, ist das Eintauchen in eine andere Welt vollkommen. Ich schlage eine Seite um, als müßte ich den schweren Stein vom Ausgang der Räuberhöhle rollen. Die Welt durch die Augen eines Schriftstellers betrachten zu dürfen ist eine vertrauliche Umarmung. Die Welt ist nicht nur durch Fakten zu verstehen, sondern auch durch Träume, Stimmungen und Schicksale. „Versteh mich nicht so schnell“, scheint oft ein Buch zu rufen. Wenn man sich überlegt, daß manche Autoren wie Peter Nadas 18 Jahre an einem Werk wie den „Parallelgeschichten“ geschrieben haben, kann ich auch versuchen sein Buch so zu achten, daß ich jeden Satz auf meiner Zunge zergehen lasse wie den Apfelkuchen von Frau Weyher. Schriftsteller wie Peter Handke, dessen Auftreten ich manchmal kaum ertragen kann, kann ich aber trotzdem mit Gewinn lesen. Er gehört zu den Schriftstellern, die eine eigene Sicht auf die Welt haben. Sie erschaffen einen Freiraum, in den sich auch Sonderlinge einfügen können. Man kann sich manchmal den Wahrnehmungen anderer Menschen überlassen, wenn man die eigene Sicht auf die Weltordnung in Frage stellen will. Es ist erstaunlich, wie viele Bücher ich mal verschlungen habe. Daß ich nebenbei selbst über 70 Bücher in die Schreibmaschine gehauen habe, verstehe ich auch nicht mehr. Heutzutage vertiefe ich mich anders in ein Buch. Ich bleibe länger an manchen Bildern haften. Daß mich ein Roman wirklich fesselt, kommt seltener vor. Viele der neuen Autoren kenne ich nicht mehr, und das marktorientierte Schreiben macht es schwerer, wahre Schätze zu heben. Alles klingt ähnlich, und viele schreiben von den gleichen Vorkommnissen. Zum Glück durfte ich noch Autoren entdecken, die trotz weniger Buchverkäufe auffielen. Einer meiner Lieblingsautoren, Wilhelm Genazino, starb 2019 und Ror Wolf Anfang diesen Jahres 2020. Ich habe aber das Gefühl, daß sie immer noch um mich herum stehen und mir zuwinken. Man kann von den Besten lernen wie unwichtig der Erfolg ist. Wenn ich mal sterbe, würde ich gerne alle Bücher mitnehmen, die mich umgeben, also auch die, die ich schon gelesen habe und auch die, die ich nicht mag.

Das Gespräch ist noch nicht zuende - morgen geht es hier weiter!