Eine Geschichtsstunde

Dorothea Müller – „Einmal reicht!“

von Frank Becker

Umschlaggestaltung: Malte Roß
Eine Geschichtsstunde
 
Wie und in welchem Umfang man sein Leben in Form einer Autobiographie für ein interessiertes Publikum zwischen zwei Buchdeckel faßt, ob man es selber aufschreibt oder einem Co-Autor erzählt, entscheidet jeder Autor selbst. Es gibt Autobiographien wie die des US-Außenministers Henry Kissinger, die ob der Bedeutsamkeiten, die sie mitzuteilen zu haben glauben, jedes Maß sprengen (allein die Erinnerungen Kissingers aus den nur sieben Jahren 1968-1974 benötigen 3.400 Seiten) oder solche wir die von der Wachauerin Lina Schmelz, die in zwei Heften von zusammen 90 Seiten ihr arbeitsreiches Leben als Winzerin erzählt. Beide haben eines gemeinsam: Sie erzählen nicht mehr und nicht weniger als ein Leben. Und da braucht es, um auf den Kern zu kommen nicht mehr als eine gute Essenz.
 
Ähnlich schmal und ebenso lesenswert sind die soeben im Wuppertaler NordPark Verlag erschienenen Erinnerungen der Schriftstellerin Dorothea Müller (1939-2020), die ihr Leben und was es sie gelehrt hat, auf 100 Seiten ernsthafter Rückbesinnung, pointiert bildhaft, aber auch mit Galgenhumor durchaus angemessen amüsant zu erzählen weiß. In schweren Zeiten geboren und unter Entbehrung und Mangel an allen Ecken und Enden aufgewachsen, hat sie den Wiederaufbau nach der Katastrophe von NS-Diktatur und Weltkrieg erlebt, die Prüderie der 50er und noch bis in die 60er Jahre und die nach heutigen Maßstäben unfaßbare Rechtlosigkeit von jungen Mädchen und Frauen in der modernen Bundesrepublik in dieser Zeit.
Dorothea Müller hat sich mit eisernem Willen förmlich „durchgeschlagen“, gegen die männliche Dominanz ihrer Zeit, gegen Widerstände des Vaters, die leibliche Mutter war früh gestorben, eine eigene Position erkämpft und behauptet. Zeitzeugen wissen, was das damals bedeutet hat. Und es blieb schwierig, denn auch eine junge Ehe, Wohnortwechsel, zwei Kinder und eine zunächst ungewünschte Tätigkeit als Lehrerin bargen ihre Fußangeln. Sie beschreibt greifbar den Alltag nennt Stichworte, die für jede Leserin, jeden Leser ihrer Generation unmittelbar Bilder von Situationen und Lebensbedingungen im bürgerlichen Mittelstand entstehen lassen, die sie vermutlich ganz genau so ebenfalls erlebt haben. Noch einmal jung sein? Alles neu gestalten? Um Himmels Willen! Einmal reicht!
Jüngeren Lesern, die heute eine andere Kultur und veränderte Sprache haben, gibt sie mit Stichworten Anregungen, Ältere zu fragen, wie das denn „damals“ war. Vielleicht eine Anregung für den Geschichtsunterricht in der Schule.
 
Dorothea Müller ist vor wenigen Wochen gestorben, doch sie konnte noch die Fertigstellung ihres beglückenden Buches erleben. Ein Bericht einer Zeitzeugin, der Substanz hat und zu empfehlen ist.
 
Dorothea Müller – „Einmal reicht!“
Stationen eines Lebens
Mit einem Nachwort von Hermann Schulz
© 2020 NordPark Verlag, 106 Seiten, Broschur – ISBN: 978-3943940-66-4
12,- €
Weiterte Informationen: www.nordpark-verlag.de