Käse macht Weltgeschichte

von Detlef Färber

Detlef Färber - Foto © Silvio Kison
Käse macht Weltgeschichte
 
Morgens Marmelade ist eine Mogelpackung: ein süßes, aber falsches Versprechen. Da ist mir Käse zum Frühstück lieber. Heute gibt es welchen, der heißt Minitorte und hat noch einen anderen Namen - schmeckt aber trotzdem halbwegs. Das Unglaubliche geschieht, als ich ihn hinterher wieder in seine Schachtel packen will und kurz aufs Kleingedruckte gucke. Und siehe da: Sogar bei so ein bißchen Käse steckt schon der Teufel im Detail. „Nehmen Sie den Käse mindestens eine Stunde vor dem Verzehr aus dem Kühlschrank! “, steht da. Hab' ich natürlich nicht gemacht. Was nun? Die gerade von mir hintergeschlungene Käsesemmel ist damit offensichtlich ungültig. Als mir das klar wird, knurrt mein Magen augenblicklich. Und nur mit allerletzter Kraft und mit barbarischem Hunger schleppe ich mich bis zum Mittag durch die Welt.
Das darf nicht noch mal passieren. Den Stammtisch heute Abend schwänze ich, denn ich muß morgen ganz zeitig raus. Spätestens 5.45 Uhr muß der Käse aus dem Kühlschrank. Und das von nun an täglich, damit dieser Käse auch täglich seinen vollen Geschmack entfalten kann. Ist doch nicht zu viel verlangt, daß ich dafür mein Leben auf den Kopf stelle und ein neuer Mensch werde! Was nie eine Frau, ja, nicht mal der Kommunismus hingekriegt hat, das schafft so ein banaler Käse jetzt ganz locker. Denn die Kleinigkeiten geben auch bei mir den Ausschlag. So läuft ja die ganze Weltgeschichte: Grenzkonflikte, Kriegserklärungen, Völkerschlachten, Bündnisbrüche, Reichsspaltungen oder das Liebes-Aus im Königshaus - immer kann ein unterkühltes oder überhitztes, stinknormales Käsehäppchen der wahre Grund dafür gewesen sein.
Davor schützt nur äußerste Präzision. Ich werde also ab sofort ein Frühaufsteher, ein Mann, der wie ein Uhrwerk funktioniert. Noch heute kauf ' ich mir die genaueste Uhr aller Zeiten und gleich noch den aktuell gültigen Jahreskalender mit dazu. Denn im Kleingedruckten auf diesem Käse lauern noch ganz andere Fallstricke - Fragen, die mit dem Faktor Zeit zu tun haben. Erstens: Darf ich den Käse vor dem aufgedruckten Datum im nächsten Monat überhaupt schon essen? Und was passiert zweitens, wenn der Käse nicht weniger, sondern mehr als eine Stunde vor dem Verzehr den Kühlschrank verlassen hat. Kommen dann drittens schon Prozesse in Gang, die sich Viertens nicht mehr aufhalten lassen? Nach zwei Stunden zum Beispiel könnte sich der gerade eben noch voll entfaltete Geschmack langsam wieder einrollen, ja, einigeln und sich bis zur völligen Unkenntlichkeit verleugnen. Und wenn dieser Käse sogar mal den ganzen Tag draußen steht, wird er sich womöglich in sein Gegenteil verwandeln. Doch was ist das Gegenteil von Käse? Und endet dessen Verzehr zwangsläufig tödlich?
Fragen über Fragen: Je länger ich über sie nachdenke, umso mehr wird mir klar, daß mir zum Käse-Gourmet eine ganze Kultur fehlt. Denn allein mit neuer Uhr und minutiöser Pünktlichkeit ist es nicht getan. Auch große Tapferkeit wäre ja nötig, um den immensen Risiken des Käse-Verzehrs, die sich allein schon aus dem Kleingedruckten ergeben, furchtlos entgegenzutreten. So muß mein kleines bißchen Mut nun wenigstens dafür reichen, dem kreuzgefährlichen Käse auf immer zu entsagen: und zwar in diesem Augenblick! Mag ja sein, daß Käse heimlich, aber gewaltig in der Geschichte mitmischt. Trotzdem endet meine Geschichte mit ihm jetzt - unwiderruflich.
Doch während ich hier die Finger vom Käse lasse, spielen sich nebenan und überall wahre Dramen mit unabsehbaren Folgen ab: Dramen, die sich anfangs immer nur um irgendeinen Käse drehen. Und das schon, seit die Welt sich dreht.
 

© Detlef Färber