Bunte Götter

Die „Golden Edition“ zur antiken Statuenpolychromie im Frankfurter Liebieghaus

von Rainer K. Wick

a Farbrekonstruktion der Phrasikleia, um 540 v. Chr., Foto © Liebieghaus Skulpturensammlung – Vinzenz Brinkmann
b Farbrekonstruktion der sogenannten Peploskore, um 520 v. Chr., Variante B, überarbeitet 2019, Foto © Liebieghaus Skulpturensammlung – Vinzenz Brinkmann
c Farbrekonstruktion der sogenannten Kleinen Herkulanerin, 2. Jahrhundert v. Chr./1. Jahrhundert n. Chr., Foto © Liebieghaus Skulpturensammlung – Vinzenz Brinkmann

Bunte Götter
 
Die „Golden Edition“ zur antiken Statuenpolychromie im Frankfurter Liebieghaus
 
Schon seit mehr als anderthalb Jahrzehnten tourt unter dem eingängigen Titel „Bunte Götter“ eine spektakuläre Ausstellung zur Farbigkeit antiker Skulpturen durch bedeutende Museen dieser Erde. Ihr Ausgangspunkt war im Jahr 2003 die Münchner Glyptothek, nach Zwischenstationen in Deutschland, Europa und Übersee war sie 2008 im Frankfurter Liebieghaus, der historischen Skulpturensammlung der Mainmetropole, zu sehen, wohin sie nun in erweiterter Form zurückgekehrt ist und – sofern sie nicht angesichts steigender Corona-Infektionszahlen einem erneuten Shutdown zum Opfer fällt – noch bis zum 17. Januar 2021 gezeigt wird.
 
Die sehenswerte Schau räumt gründlich mit der immer noch weit verbreiteten, gleichwohl falschen Vorstellung auf, daß die Skulpturen der griechischen und römischen Antike in der Regel marmorweiß gewesen seien. Obwohl bei genauerem Hinsehen selbst für Laien gelegentlich Farbspuren wahrnehmbar sind und das Phänomen der sogenannten Statuenpolychromie in Fachkreisen seit langem bekannt ist, scheint das Idealbild einer „weißen Antike“ nach wie vor fest in den Köpfen verankert zu sein. Es ist das Verdienst des Archäologen Vinzenz Brinkmann, Leiter der Antikensammlung im Liebieghaus und Kurator der Ausstellung, diesen Mythos in den letzten Jahrzehnten endgültig entzaubert zu haben.
 
Mit der aktuellen Schau in Frankfurt zieht er die Bilanz seiner wegweisenden Forschungen auf dem Gebiet der Farbigkeit antiker Skulpturen. Seit 1980 untersucht er mit Hilfe hochkomplexer naturwissenschaftlicher Analyseverfahren die auf den Objekten erhaltenen Farbreste und konnte so die durch Verwitterung und sonstige Einflüsse vermeintlich verschwundenen Einzelheiten der ursprünglichen Bemalung aufspüren. Dabei gelang es, nicht nur formale Details zu identifizieren, sondern auch hinsichtlich Bindemitteln, Pigmenten und Praktiken des Farbauftrags neue Einsichten zu gewinnen. Zusammen mit seiner Frau Ulrike Koch-Brinkmann arbeitet er seit rund dreißig Jahren daran, die bei diesen Analysen gewonnenen Erkenntnisse in dreidimensionale Rekonstruktionen einfließen zu lassen, die gewissermaßen einer Auferstehung oder zweiten Geburt antiker Skulpturen in ihrer einstigen Farbigkeit gleichkommen.
 
In spektakulärer Weise zeigt dies die experimentelle Rekonstruktion der Farbigkeit einer der zwischen Spätarchaik und Frühklassik datierbaren Marmorfiguren des Aphaiatempels von der griechischen Insel Ägina, die Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckt und vom bayerischen Kronprinzen Ludwig erworben wurden und in die Münchner Glyptothek gelangten. Es handelt sich um die allgemein als Paris bezeichnete Figur eines knienden Bogenschützen in der Tracht eines Kriegers der nördlichen und östlichen Nachbarvölker der Griechen, an der mehr Farbspuren erhalten geblieben sind. Um so erstaunlicher, daß die Rekonstruktion nicht nur intensive Gelb-, Rot-, Blau- und Grüntöne aufweist, sondern auch braune Haare und ein rosarotes Inkarnat, und ferner, daß die Ärmel und die eng anliegende Hose ein aufwendig gestaltetes farbiges Rautenmuster besitzen. Diese erste Rekonstruktion aus dem Jahr 1989 galt damals als Sensation, für manchen Liebhaber griechischer Kunst war sie aber auch ein Schock. Anstelle der liebgewonnenen Vorstellung von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ griechischer Meisterwerke, von der der Begründer der modernen Archäologie Johann Joachim Winckelmann schon 1755 gesprochen hatte, erschien die Kunst der Griechen nun plötzlich jenseits aller Erhabenheit in den grellen Farben der Popart, die in den 1960er Jahren die internationale Kunstszene dominiert hatte. Inzwischen gibt es drei leicht voneinander abweichende Rekonstruktionsvarianten des Bogenschützen – Ergebnis verfeinerter Forschungsmethoden und daraus resultierender neuer Einsichten.
 

Bogenschütze vom Aphaiatempel in Ägina, um 480 v. Chr., Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek, München, Foto © Rainer K. Wick
und Farbrekonstruktion, Variante C, Foto © Liebieghaus Skulpturensammlung – Norbert Miguletz

Die Frankfurter Ausstellung entfaltet ein eindrucksvolles Panorama durch die Jahrhunderte, von einem hochabstrakten, kleinformatigen frühgriechischen Kykladenidol aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. über Bau- und Grabplastiken aus archaischer und klassischer Zeit sowie Reliefkunst aus der Epoche des Hellenismus bis hin zur Porträtplastik aus der römischen Kaiserzeit. Hervorgehoben sei die Farbrekonstruktion der Marmorfigur eines nackten Jünglings (Kuros) aus der Zeit um 560 v. Chr., die in Tenea nahe Korinth gefunden wurde und in der älteren Literatur auch als Apoll von Tenea bezeichnet wird. Sie zeigt die charakteristischen Merkmale archaischer Statuenpolychromie: einen homogenen Farbauftrag und randscharfe farbige Hervorhebungen markanter physiognomischer Details wie Augen und Mund, ornamental stilisierte Brustwarzen und blaues Schamhaar. Brinkmann und Koch-Brinkmann erkennen hier eine Farbgebung, die sich auch im alten Ägypten beobachten läßt, wie ja überhaupt die griechischen Kuroi ohne die Tradition ägyptischer Bildhauerkunst kaum denkbar sind. Im Unterschied zur Nacktheit archaischer Jünglingsgestalten wurden die jungen Frauen (Koren) grundsätzlich bekleidet abgebildet. Ihre Gewänder boten den Künstlern reiche Möglichkeiten für ornamentale Verzierungen und prachtvolle Farbfassungen. So präsentierte sich das bis auf den Boden reichende Kleid der Grabstatue einer Verstorbenen namens Phrasikleia (um 540 v. Chr.) in einem intensiven Rotton, kontrastiert mit ockergelben Mäanderbordüren und schmückenden Rosetten, und auch die fälschlich so genannte Peploskore (um 520 v. Chr.), tatsächlich ein Kultbild der Artemis, und die sogenannte Chioskore (um 520/500 v. Chr.), beide von der Athener Akropolis, erstrahlen in Frankfurt als Rekonstruktionen in ihrem einstigen kräftigen Kolorit.
 

Kuros von Tenea, um 560 v. Chr., Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek,
München, Foto © Rainer K. Wick
Farbrekonstruktion, Foto © Liebieghaus Skulpturensammlung – Vinzenz Brinkmann

So wie sich in der Skulptur der griechischen Klassik des 5. Jahrhunderts die für die Archaik typische strenge Statuarik mehr und mehr zugunsten eines geschmeidigen Bewegungsstils lockert, der sich im Hellenismus zu einer geradezu dramatischen Formensprache und zu gleichsam barockem Pathos steigern kann, gibt es auch bei der Farbgestaltung von Statuen und Reliefs Veränderungen im Sinne einer fortschreitenden Verfeinerung der malerischen Mittel, einer enormen Bereicherung der Farbpalette und einer Betonung realistischer Effekte durch den das Hell-Dunkel modellierenden Einsatz der Malfarben, durch Schraffuren und durch Glanzlichter. Um 320 v. Chr., an der Schwelle von der Spätklassik zum Hellenismus, entstand der sogenannte Alexandersarkophag, der 1887 in einer der Grabkammern der Königsnekropole von Sidon im heutigen Libanon gefunden wurde und zu den Highlights im Archäologischen Museum in Istanbul gehört. Zum Fundzeitpunkt dieses Marmorsarkophags, dessen Hochreliefs zweimal Alexander den Großen zu Pferd im Kampf gegen die Perser zeigen, befand sich die ursprüngliche Farbigkeit noch in einem erstaunlich guten Erhaltungszustand, und obwohl die Farben seither stark verblasst sind, vermag man sie immer noch gut zu erkennen. Die Rekonstruktion von Vinzenz Brinkmann und Ulrike Koch-Brinkmann zeigt, wie das bewegte Geschehen durch das Medium Farbe nicht nur eine deutliche Steigerung erfährt, sondern auch die „Lesbarkeit“ der Reliefs, etwa was die Zugehörigkeit der Kombattanten zur Fraktion der Griechen einerseits und der Perser andererseits anbelangt, erhöht wird.
 

Sogenannter Alexandersarkophag, um 320 v. Chr., Archäologisches Museum Istanbul, Foto © Rainer K. Wick
und Farbrekonstruktion, Foto © Liebieghaus Skulpturensammlung – Vinzenz Brinkmann

Entsprechend der auf täuschende Lebendigkeit zielenden antiken Nachahmungslehre präsentiert sich die Rekonstruktion der Statue einer stehenden junge Frau, die sich in einen Mantel hüllt und als Kleine Herkulanerin firmiert. Bei dieser Marmorskulptur handelt es sich um die römische Replik eines (verlorenen) spätklassischen Originals, das in der Vesuvstadt Herkulaneum gefunden wurde und sich heute in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden befindet. Eine andere Replik, die im Athener Archäologischen Nationalmuseum aufbewahrt wird und von der Kykladeninsel Delos stammt, lieferte dem Team Brinkmann und Koch-Brinkmann die Basis für die in Frankfurt zu bewundernde Farbrekonstruktion. Im Unterschied zur Flächenhaftigkeit und Randschärfe archaischer Statuenpolychromie zeigt das Gesicht mit den leicht geröteten Backen zarteste Farbübergänge, und die rosavioletten Töne des bis zum Boden hinab reichenden Untergewandes korrespondieren im Sinne eines abgemilderten Komplementärkontrastes mit den kühlen Grüntönen des Mantels. Das artistische Raffinement der Farbgestaltung zeigt sich vollends aber erst in der malerischen Behandlung des dünnen Mantels, der überall dort durchsichtig erscheint, wo er sich fest an den Körper schmiegt und die Hautfarbe und die Farbe des Untergewandes erahnen läßt.
 

Rekonstruktionen der sogenannten Krieger von Riace, um 440 v. Chr.
Foto © Liebieghaus Skulpturensammlung – Norbert Miguletz

Zu den größten Überraschungen der Frankfurter Schau gehören die experimentellen Rekonstruktionen zweier bedeutender antiker Bronzegruppen, nämlich der sogenannten Krieger von Riace (um 440 v. Chr.) und der sogenannten Quirinalsbronzen. (spätes 4./frühes 3. Jahrhundert v. Chr.). Bronze galt in der Antike als ein wesentlich wertvolleres, edleres Material als Marmor. Das schloss aber nicht aus, daß auch Bronzen farblich behandelt wurden. So wurde die Illusion sonnengebräunter Haut durch das Auftragen dünner Schichten rot pigmentierten Asphaltlacks erzeugt, und farbige Steineinlagen in den Augen, Brustwarzen und Lippen aus rötlichem Kupfer, mit Silberblech belegte Zähne und aus Kupfer geformte blutende Wunden trugen entscheidend dazu bei, den Realitätscharakter der Werke zu steigern.
Das Frankfurter Schau zeigt, daß in der griechischen und römischen Kunst nicht nur die Göttinnen und Götter, sondern auch Sterbliche – ob Heroen, Herrscher oder Menschen aus anderen Lebensbereichen - bunt waren.
Die großartige Ausstellung wird begleitet von einem nicht minder großartigen, bei Prestel publizierten Katalogbuch mit überaus informativen Textbeiträgen und opulenter farbiger Bebilderung (Museumsausgabe 34,90 EUR, Buchhandelsausgabe 49,00 EUR).
 
Rainer K. Wick