Dem Vergessen entgegenwirken

„Persischstunden“ von Vadim Perelman

von Renate Wagner

Persischstunden
Deutschland / Rußland 2020

Regie: Vadim Perelman
Mit: Nahuel Pérez Biscayart, Lars Eidinger u.a.
 
Geschichten, die von der Zeit des Nationalsozialismus handeln, liegen schwer auf ihren Betrachtern. Am ehesten erträgt man noch, wenn von Überleben die Rede ist – und das so außergewöhnlich, wie es in den „Persischstunden“ erzählt wird. Man wäre übrigens geneigt, so wie es dem Regisseur des Films ursprünglich gegangen ist, dies für eine wahre Geschichte zu halten. Aber sie beruht „nur“ auf einer Erzählung des Autors Wolfgang Kohlhaase. Doch sie ist so schön (bei aller Gräßlichkeit der Welt, in der sie spielt), daß man sie sich wahr wünschen würde.
 
Der Film, in dem die französische und die deutsche Sprache benützt werden, führt den Betrachter in das von den Deutschen besetzte Frankreich des Jahres 1942. „Jagd“ auf Juden ist alltäglich. Bei einer dieser Razzien wird auch der belgische Jude Gilles gefangen genommen. Er sei kein Jude, er sei Perser, behauptet er, aber das ist den Deutschen egal – wie alle anderen wird er in ein Lager gebracht (wo sich dieses genau befinden soll, wird nicht klar).
Diese Ausgangsposition kann nur funktionieren, wenn besondere Konstellationen eintreten, und genau das geschieht: Als er beharrlich darauf besteht, Perser zu sein, bringt man ihn zu Hauptsturmführer Klaus Koch, der, Nomen est Omen, im Zivilleben Koch war. Er hat, worüber er als angeblich guter Nazi nicht redet, einen Bruder, der von Deutschland nach Persien geflüchtet ist. Zu ihm möchte Koch nach dem Krieg, dort möchte er ein Restaurant aufmachen. Dieser Jude da behauptet, Perser zu sein? Dann soll er ihm doch Farsi beibringen. Und damit beginnt eine irrwitzige Geschichte, die die Düsternis der Situation und des Lageralltags durch diesen Gewaltstreich fast humoristisch erhellt. Denn daß Gilles kein Wort Farsi spricht, ist klar. Koch allerdings auch nicht. Und dieser hat keine Möglichkeit zu kontrollieren, ob das, was Gilles ihm ununterbrochen vormacht, echt ist.
Wir wissen es und bekommen zahllose Beispiele für den Einfallsreichtum, mit der hier eine Sprache erfunden wird – und bangen mit Gilles um die Gedächtnisleistung, die er erbringen muß. Denn Koch schreibt sich – ein penibler Deutscher – alles auf, was er „lernt“, Gilles kann nichts aufschreiben, er muß alles im Kopf behalten, und wenn er sich irrt und von Koch darauf aufmerksam gemacht wird, muß er für diesen Irrtum eine Begründung finden. Ein Tanz auf dem Seil, den Darsteller Nahuel Pérez Biscayart grandios erbringt.
 
Für Lars Eidinger ist der Klaus Koch eine Möglichkeit, die klassische Figur des „bösen Deutschen“ ein wenig zu differenzieren. Das schlechte, brutale Benehmen allen gegenüber ist eine Art von Markenzeichen der Führungspersönlichkeiten im Lager (wobei Koch noch gar nicht an der obersten Spitze steht). Aber man spürt auch die fast besessene Begierde, hier etwas zu lernen, was ihn in ein anderes Leben, weit weg von der schäbigen Lagerrealität (die interessant ausgepinselt wird), führten kann. Und als man ihm den „Perser“, an den die anderen nicht glauben, wegnehmen und in ein Vernichtungslager bringen will, kämpft er geradezu darum ihn zu behalten – vielleicht nur seinetwegen, aber auch, weil sich ein unsichtbares Band zwischen den Männern geknüpft hat.
Vor allem die US-Kritik hat an diesem Film „Unglaubwürdigkeit“ bemängelt, was – ganz nüchtern betrachtet – nicht völlig unberechtigt sein mag. Aber gibt es nicht eine höhere Wahrheit, wenn man beispielsweise Gilles das geniale Gedächtnis und den eisernen Wunsch zu überleben  glaubt? Und warum soll es im Krieg nicht zu absolut verrückten Situationen zwischen Tätern und Opfern gekommen sein?
Vielleicht hat die amerikanische Kritik dem Regisseur Vadim Perelman auch übel genommen, daß er diese Welt zwar düster zeichnet, aber exzessive Brutalität ausspart. Man lernt das Leben von Gilles in der Küche kennen, wo Deutsche mit Gefangenen zusammen arbeiten, es gibt Intrigen auch der Deutschen untereinander, und Koch sieht sich von seinem Vorgesetzten peinlich befragt, wo denn eigentlich sein Bruder sei. Die Gewalt und die Bedrohung geht nach allen Seiten, und es ist bezeichnend, daß nicht nur die Deutschen die Menschen in wertvoll und unwert teilen – für einen abgeschossenen englischen Flieger ist ein Perser nur „Gesindel aus den Kolonien“.
 
Es ist eine besonders berührende Szene, wenn der zusammengeprügelte, im Steinbruch bis aufs Blut gequälte Gilles im Spital deliriert und dabei „sein“ Farsi spricht… Später erfährt er, daß Koch sich geweigert hat, ihn umbringen zu lassen (was der Arzt mit leichter Hand getan hätte), und mit zusätzlichem Essen für seine Genesung gesorgt hat. Als man das Lager auflöst und alle Gefangenen zur Exekution in den Osten transportieren will, bittet Koch um seinen „unentbehrlichen“ Perser, ungeachtet der Gerüchte („Lustknabe“, „Perserkatze“), denen der Nazi-Offizier sich von seinesgleichen ausgesetzt sieht. Und er darf ihn behalten, und sie konversieren mit einander in der erfundenen Kunstsprache, die immerhin 1500 Wörter umfasst…
Ist es kitschig, daß Gilles um jeden Preis mit den anderen Juden sterben will und sich beim Abmarsch unter ihnen einreiht? Koch reißt ihn weg und fragt ihn, ob er für einen Haufen Namenloser sterben will. Sie seien nicht namenlos, nur weil Koch ihre Namen nicht kenne, antwortet Gilles, und am Ende wird das die tragisch schöne Wendung sein, nachdem die Amerikaner das Lager übernommen haben und keine Unterlagen finden, die die Deutschen sorglich vernichtet haben. Aber Gilles, der auch über den Lagerpapieren gesessen ist, hat sich unglaubliche 2840 Namen von Insassen gemerkt, die er aufsagen kann – und damit dem Vergessen entgegenwirken, was den Juden so wichtig ist.
Der Film, der immer wieder in die Tragödie abzustürzen droht, hat für den Kinobesucher noch eine Pointe – was wird wohl geschehen, wenn Koch die Flucht gelingen sollte und er am Flughafen von Teheran sein Farsi anbringen möchte? Ja, man wünschte sich, es wäre eine wahre Geschichte gewesen.
 
 
Renate Wagner