Über die Ästhetik des Häßlichen

Turit Fröbe – „Die Kunst der Bausünde“

von Ludwig Lenis


Über die Ästhetik des Häßlichen
 
Bausünden schöngeredet
 
Seit etwas mehr als acht Monate reiße ich mit großem Vergnügen Tag für Tag eine Bausünde ab – von Turit Fröbes Dumont-Kalender „Abreißen“ nämlich, einem Kompendium der unglaublichsten architektonischen Verfehlungen. 366 Gewalttaten gegen den guten Geschmack hat sie darin versammelt, ich berichtete vor einem knappen Jahr darüber.
In wenigen Tagen wird in einer Neuausgabe in den Buchläden ein Band vorliegen, in dem Turit Fröbe den gerade noch Angeprangerten, den „Spektakelarchitekturen“ à la „Alexa“ und „Bierpinsel“, den Überpinselten und Mißhandelten, vor allem aber den zwischenzeitlich Abgerissenen süffisant eine Lanze bricht: „Die Kunst der Bausünde“, ebenfalls bei Dumont.
 
„Lange wurde sie mißachtet und unterschätzt. Sie galt als häßlich und austauschbar – zu Unrecht!“, schreibt der Verlag dazu und weiter: (…) „Manches, was landläufig als solche (Bausünde) bezeichnet wird, ist nur aus der Mode geraten, einiges wurde bereits so geplant und anderes wiederum ist erst nachträglich durch Anbauten, Überformung oder Anstrich in den Stand der Bausünde erhoben worden.“
Die Architekturhistorikerin Turit Fröbe tritt den Beweis dafür an und plädiert zwischen den sorgsam unterscheidenden Kapiteln wie „Die Bausünde als Chance“, „Unfälle und Rätsel“ (die liebe ich besonders, vor allem die Saarbrücker Dachrinne, den Weimarer Fußgängertunnel und die Erlanger Balkone), „Kunst am Bau“, „Angebaut“, „Dekoriert“, „Im Baumarktfieber“; Schizohäuser“ und im wichtigen „Nachruf“ kurzweilig für das Richtige im Falschen.
Ihre Entdeckungsreise nach u.a. Frankfurt/Oder und Eislingen, Berlin, Osnabrück und Koblenz, Glücksburg und Braunschweig, Göttelborn und Pforzheim, Dresden und Unterhaching führt uns vorbei an Kirchen im Parkhaus- oder Bunkerstil, Erker-Eiern am Plattenbau, Schizohäusern mit zwei Gesichtern, Raumschiffen, Zwergeninvasionen, Streitfall-Doppelhäusern, Streetart und voreilig geschleiften DDR-Architekturen – und sie behauptet mit leisem Lächeln (S. 182), daß gute Bausünden bei genauerer Betrachtung durchaus eine gewisse Schönheit und einen ureigenen Charme entfalten können – wenn man sich dazu zwingt, erlaube ich mir zu ergänzen.
 
Beispiele von Eigenheimen über Kaufhaustempel bis zu öffentlich finanzierten Bauten zeigen die ungeheure Bandbreite, die schlechter Geschmack unter den Händen unerschrockener Architekten und Bauplaner haben kann. Man weiß gar nicht, wem man nun die Krone verleihen soll, dem Bielefelder Schizohaus, den Asendorfer Blumenkästen, der Kölner Bushaltestelle am Dom, der Berliner Humboldt-Box oder dem dortigen Hotel Ambiente. In Bielefeld, übrigens, scheint es die meisten Architektur-Beleidigungen zu geben. Und im Vertrauen, das ist nur ein kleiner, ganz kleiner Ausschnitt aus der Fülle von baulichen Katastrophen in unserem Land. Aber gehen Sie einfach mit offenen Augen durch Ihre Stadt. Sie werden staunen. Nebenbei: Ein Index zumindest der Städtenamen hätte dem Buch gut getan.
 
Turit Fröbe – „Die Kunst der Bausünde“
© 2020 Dumont Buchverlag, 182 Seiten, gebunden, 150 farbige Abbildungen - ISBN 978-3-8321-9986-9
Erscheint am 18.08.2020
20,-
Weitere Informationen:  www.dumont-buchverlag.de