Endstationen

Bernhard Schlink – „Abschiedsfarben“

von Frank Becker

Umschlagmotiv: Mary Jane Ansell,Odalisque II, 2004
Endstationen
 
Lebensläufe vs. Lebensentwürfe
 
So oft wird aus etwas Richtigem etwas Falsches. Warum sollte nicht
ebenso aus etwas Falschem etwas ‚Richtiges werden können?
(Geliebte Tochter)
 
Mit „Abschiedsfarben“, neun neuen Geschichten aus den Blickwinkeln von Männern im Herbst des Lebens, aus denen Lebenserfahrung und große Menschenliebe sprechen, legt Bernhard Schlink einen Erzählband vor, der sicher nicht zuletzt seinem Alter zu verdanken ist. Einsichten, Reue, selbstkritische Reflexionen, tiefes Verständnis für menschliche Schwächen und heimliche Sehnsüchte kennzeichnen die brillant verdichteten, mit Raffinesse zum Anlaß der Ereignisse rückblendenden Geschichten, die die Hohe Kunst der kleinen Form in Vollendung zelebrieren.

Ob es die zehrende Angst ist, ein schlimmer Verrat könne Jahrzehnte später entdeckt werden, die wie ein Nachtmahr auf der Brust sitzt, die heimliche zarte Hinwendung zu einem dem Kindesalter entwachsenden Mädchen, die in Haß und Rache endet oder ob er eine Liebe beschreibt, die unter dem Zwang einer großen Schuld nicht werden kann – Bernhard Schlink fesselt. Ein Meister der Sprache und vollendeter Erzähler schildert er zerbrochene Leben, letzte sehnsuchtsvolle Versuche, Schuld und verzehrende Liebe. Die süßen Leiden der Adoleszenz, die in sexuelles Erwachen gleiten, das stille Begehren des Alters der zarten Jugend gegenüber, der nicht zählende Altersunterschied zwischen Mann und Frau – Schlink kann es begreiflich machen.

Er vermittelt körperlich den Schmerz des verpaßten Glücks, der falschen Entscheidung, des selbstquälerischen Grübelns und der Einsicht, daß man nichts zurückholen kann. Aber er versöhnt durch die Einsichten seiner Figuren und vor allem durch die Hoffnung, die immer wieder durch die Zeilen sickert, in „Geliebte Tochter“, „Der Sommer auf der Insel“, in „Altersflecken“ oder besonders in „Jahrestag“.
 
…die Umarmungen waren, als sei die Schwerkraft aufgehoben. (…) Es war das schiere Glück. Er hatte es damals (…) verleugnet. Erst jetzt in der Erinnerung konnte er sich eingestehen, daß er nicht einen Seitensprung beendet, sondern das Glück zerstört hatte.
(Altersflecken)
 
Es sind hinreißende, traurig und heiter machende Geschichten voller offener Zuwendung und tiefer Melancholie, gespeist aus der eigenem Lebenserfahrung eines der größten Erzähler unserer Zeit und (s)einer Männergeneration, Geschichten aus dem „Indian Summer“ des Lebens. Es sind Geschichten, die mit Enthüllungen überraschen, mit Ernüchterung und Versöhnung, mit süßen Sehnsüchten nach verbotenen Früchten, unerwarteten Geschenken, Selbstzweifeln und mit traurig-glücklichem Ende, aus denen Schlinks große Menschenliebe, sein Wunsch nach gegenseitigem Verständnis, die stete Hoffnung auf Versöhnung und das einzig Gültige, die Liebe. Das auch mit Augenzwinkern und einem nicht ganz glaubhaften Protagonisten, dem ein ungeträumter Traum ohne sein Zutun erfüllt wird.
Bernhard Schlink schenkt mit diesem Buch den Lesern, aber auch den Leserinnen wunderbar lebensvolle Erzählungen, die die Möglichkeit eigener Erkenntnis bergen, bei der Lektüre heimliche Entdeckungen aus dem eigenen Leben zu machen. Denn so sehr sie auch auf den Erzähler hinweisen, so gültig sind sie auch allgemein.
 
Die Zärtlichkeit der Mutter, die Berührung der Mädchen, die Sonne, die den Jungen durchglühte und das Glück, das ihn durchflutete – der Sommer der Sinnlichkeit blieb ihm nicht nur in Erinnerung, sondern nährte seine Sehnsucht, die er in jede Liebe zu einer Frau trug. Die Liebe sollte ihn tragen, wie ihn die Sinnlichkeit des Sommers getragen hatte.
Ja, die Mutter hatte recht: Was schön war, konnte nicht falsch sein.
(Der Sommer auf der Insel)
 
Dieses Buch geht unter die Haut. Von den Musenblättern empfohlen und mit unserem Prädikat, dem Musenkuß ausgezeichnet.
 
Bernhard Schlink, geboren 1944 in Bielefeld, ist Jurist, Richter und Schriftsteller wie sein Kollege Herbert Rosendorfer (1934-2012), mit dem er das Glück teilt, mit seiner Schriftstellerei der juristischen Fachsprache entflohen zu sein. Heute ist er Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität in Berlin und Richter am LVerfGH in Münster.
 
Der Tod ist kalt, und das Frieren macht müde.
(Daniel, my brother)
Bernhard Schlink – „Abschiedsfarben“
Erzählungen
© 2020 Diogenes Verlag AG, 232 Seiten, gebunden - ISBN-13: 9783257071375
24,- €
Weitere Informationen: www.diogenes.ch