Von der Sündflut bis zum Hagestolz

Ein kleiner Streifzug durchs abenteuerliche Wirken der Volksetymologie

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Von der Sündflut über den
Rosenmontag bis zum Hagestolz
 
Ein kleiner Streifzug durchs
abenteuerliche Wirken der Volksetymologie
 
Von Heinz Rölleke
 
In einem Beitrag zu den Musenblättern ging es um „Volksetymologisches“ (vgl. jetzt auch Heinz Rölleke: Die Magie von Zahl und Wort. NordPark: Wuppertal 2019, S. 175-180). Folgende Begriffe sind darin vorgestellt und kurz erläutert:
 
            Armbrust - Bachstelze - Blümerant - Faltstuhl - Fisematenten - Grasmücke -
            Heuschrecke - Kastenmänneken - Katzenellenbogen – Maulwurf - Murmeltier -
            Pickelhaube - Pumpernickel - Ren(n)tier - Rosenstraße – Schattenmorelle -
            Seehund - Verlies - Vielfraß - Windhund
 
Als Volksetymologien bezeichnet man Wendungen, die ein im Lauf der sprachgeschichtlichen Entwicklung un- oder mißverständlich gewordenes Wort durch ein ähnlich klingendes ersetzt und damit in der Regel umdeutet, ohne daß dies dem Sprecher oder einer ganzen sprachlichen Gemeinschaft bewusst wäre.
 
So war die durch Reim unterstützte und dadurch eingängige mittelhochdeutsche Redensart „reht unde sleht“ (gerade, eben und schlicht, einfach) zwischen dem 15. und17. Jahrhundert in ihrer Bedeutung mutiert. Während noch Martin Luther den frommen Dulder Hiob als „schlecht und recht“  (aufrichtig, rechtschaffen und einfach, schlicht) bezeichnen konnte, veränderte sich die positive Bedeutung von „sleht“ allmählich ins Negative, und in diesem peiorativen Sinn wird das Adjektiv bis heute gebraucht (geringwertig, mangelhaft, schwach), so daß die Redensart nun fast überwiegend in umgekehrter Wortfolge und  sowie in erweiterter Form „mehr schlecht als recht“ geläufig ist. Damit wird ausgedrückt, dasßeine Sache, ein Gegenstand, eine Arbeit mehr Mängel als Qualität aufweist (milde aufgefaßt: zwar gar nicht gut, aber es geht noch soeben).
 
Umgekehrt, als Mutation zum Positiven, hat sich die Bezeichnung des Montags vor dem Beginn der Fastenzeit am Aschermittwoch gewandelt. Der Höhepunkt des Karnevals wurde früher mit eindeutig negativem Akzent als Kritik an dem Narrentreiben (das die sündhaften Exzesse des Menschen abschreckend vorstellen sollte) bezeichnet: Die Narren tobten „am rasenden Montag“ (bei Hans Sachs im 16. Jahrhundert „am geilen Montag“). Die Tagesbezeichnung durch die eindeutig positiv konnotierte Königin der Blumen ersetzte den Hinweis auf das -  früher diesen Tag charakterisierende -  unsinnige Rasen der Narren. Die Namensänderung fand vielleicht  auch Unterstützung in der alten Bezeichnung des vierten Sonntags der Fastenzeit („Laetare“) als „Rosensonntag“. Dieses Kompositum bezieht sich auf den seit dem 11. Jahrhundert üblichen Brauch, daß der Papst an diesem Tag in Santa Croce eine (goldene) Rose weihte, die einer um die Kirche verdienten Persönlichkeit verliehen wurde.  Daß sich der Bedeutungswandel in der modernen Bezeichnung „Rosenmontag“ seit etwa 200 Jahren endgültig durchgesetzt hat, zeigt die Gewohnheit, bei Karnevalsumzügen aus den Wagen außer Süßigkeiten („Kamellen“) auch Rosen oder kleine Rosensträuße in die Menge zu werfen, sowie auch die nach dem Muster des Wortes „Rosenmontag“ in jüngerer Zeit gebildete Bezeichnung „Veilchendienstag“, dem letzten Tag des Karnevals vor dem Beginn der Fastenzeit am Aschermittwoch.
 
Der „Römer“ als Bezeichnung eines (meist grünen) bauchigen Weinglases hat  ursprünglich wohl nichts mit dem Namen der Ewigen Stadt zu tun, worauf man sie aber heute bezieht, sondern ist nach spätmittelalterlichen Belegen aus Neuss, Köln und Hamburg vom niederländischen Verb „roemen“ (rühmen) abgeleitet: Unter „Roemer“ ist also ein Prunkglas zu verstehen, mit dem man einen rühmenden Trinkspruch zum 'Ruhm' einer berühmten Persönlichkeit ausbringt. Damit war die Voraussetzung für einen Witz gegeben, der auf einem kleinen Ratespiel basiert. „Was ist der Unterschied zwischen Griechen und Römern?“ - „Die Griechen konnten aus Römern trinken, aber nicht die Römer aus Griechen.“ - Verständnislose Frage eines Sachsen: „Worum gonntn de Rämer denn nich aus Griechen (Krügen) dringn?“
 
Die „aquae diluvii“ (alles überschwemmende Gewässer), von denen in der biblischen Genesis berichtet wird, wurden im Althochdeutschen zunächst mit „Sinflut“ übersetzt, abgeleitet vom germanischen Wortteil „sin“ in der Bedeutung 'umfassend'. Im Mittelhochdeutshen geriet ein „t“ als Ausspracheerleichterung zwischen die beiden Teile des Kompositums ein Gleitkonsonant, wie zum Beispiel auch in Geburt-s-tag oder Brun-f-t. Solche eingeschobenen Konsonanten dokumentieren lediglich den Sprachwandel in der mündlichen Kommunikation und haben sonst keinerlei Bedeutung. Beim Wort „Sintflut“ führte die Einfügung des „t“ allerdings im Frühneuhochdeutschen  zu einem volksetymologischen Bedeutungswandel. Da Gott diese Überflutung der vielen Sünden der Menschen wegen geschehen ließ, lag es nahe, die Bezeichnung an das klanggleiche Wort „Sünde“ anzulehnen, zumal ab dem 13. Jahrhundert die Bezeichnung „sin“ allmählich nicht mehr verstanden wurde. Diese Umbenennung hat sich durchgesetzt, obwohl Luther konsequent bei der Bezeichnung „Sind-flut“ blieb, während sein Gegenspieler Eck zur gleichen Zeit „Sind-fluß“ und „Sünd-fluß“ nebeneinander gebrauchte.
 
Ein anderes Lemma ist seinerzeit ebenfalls ins Kreuzfeuer theologischer Fragen geraten. „Buße“ und „büßen“ sind ursprünglich mit „baß“ (besser) verwandt und bedeuteten demnach 'Besserung' und 'bessern'. In der mittelhochdeutschen Berufsbezeichnung „alt-büezer“ (Flickschuster, der schadhafte Schuhe ausbessert) ist der etymologische Zusammenhang noch eindeutig erkennbar; beim heute noch geläufigen Begriff „Lückenbüßer“ (ursprünglich ganz allgemein jemand, der eine Lücke ausbessern kann oder soll) wird der Wortteil „Büßer“ inzwischen anders als ursprünglich verstanden: Jemand muß für ein Fehlendes, für eine Lücke büßen und wird dafür bestraft. Die volksetymologische Umdeutung erfolgte über die Schiene einer Vorstellung von strafrechtlicher Genugtuung, die sowohl vom weltlichen wie vom geistlichen Gericht verlangt wird. Nach kirchlicher Auffassung wird nach der Vergebung einer bereuten Sünde eine in der Ohrenbeichte verhängte Bußleistung verlangt. „Bußbescheide“ haben nichts mehr mit Besserung zu tun, sondern werden als Strafe verhängt und gewertet. Luthers theologischer Ansatz, die Buße wieder und nur als einen Akt der Besserung aufzufassen, hat sich nicht durchsetzen können. Seine verwandte Deutung des Wortes „büßen“ als 'befriedigen' („möcht ich meine Lust wol büßen“) hat nur in wenigen Wendungen überlebt, so wenn es zum Beispiel im Märchen von den sieben Geißlein in diesem Sinn heißt „als der Wolf seine Lust gebüßt (befriedigt, gestillt) hatte“ und nicht etwa 'als der Wolf für seine Lust gebüßt (eine Bestrafung auf sich genommen) hatte'. Zum gleichen Wortstamm gehört das Verb „zu-büßen“ (etwas zur finanziellen Verbesserung zuschießen). Das Wort „zu-buttern“ nach dem mittelniederdeutshen „to-boten“ (hinzugeben, etwas hinzufügen) wurde volksetymologisch an „Butter“ angelehnt.
 
Unter einem „Hagestolz“ versteht man heute einen älteren eingefleischten Junggesellen, dem man keine eheliche Verbindung mehr zutraut. Eine Erklärung für das Verbleiben im Junggesellenstand bietet sich durch den zweiten Wortteil an: In jüngeren Jahren war man wohl zu stolz, sich eine gleichwertige Frau zu suchen. Das Wort hat aber ursprünglich nichts mit „Stolz“ im modernen Sinn zu tun, vielmehr setzt es sich aus althochdeutsch „haga“ (eingehegtes kleines Grundstück) und „stalt“ (Besitz; vgl. gotisch „stalldan“); Ein „hagu-stalt“ war eines der jüngeren Geschwister des Hof(allein)erben, dem dieser ein so winziges Grundstück zur Nutzung überließ, daß er damit keinen eigenen Hausstand gründen konnte und also ehelos blieb. Die volksetymologische Anlehnung an „Stolz“ verstellt diese Zusammenhänge: Man blieb nicht freiwillig und aus Stolz unverheiratet, sondern aus Not, weil es an Besitz mangelte.
 
Der Ausflug in die oft abenteuerlich erscheinende Wort- und Bedeutungsentwicklung unserer früheren und heutigen Sprache sei mit einem Blick auf die Bezeichnung „Abenteuer“ abgeschlossen. Wie man aus der recht gebräuchlichen, (noch) fehlerhaften Orthographie „Abendteuer“ schließen kann, steht das Wort offenbar vor einer entsprechenden volksetymologischen Änderung, da man mit der Bezeichnung nichts Rechtes mehr anfangen kann, zumal wenn man „teuer“ fälschlich im modernen Sinn versteht. Also wird das Wort an die vertraute Bezeichnung „Abend“ angelehnt. Die Neubildung ergäbe allerdings auch keinen rechten Sinn, denn wieso und wozu sollten Erzählungen von Abenteuern den Abend teuer machen?
Das mittelhochdeutsche Substantiv „diu aventiure“ hat sich aus dem lateinischen „adventura“ entwickelt, das ein herankommendes (überraschendes) Ereignis bezeichnet (vgl. Advent). In diesem Sinn kann „Abenteuer“ eine große Spannweite von Bedeutungen abdecken, wie sie sich etwa in Goethes Sprachgebrauch („angenehmste“, „gewagte“ oder „scheußlichste Abenteuer“) andeutet.
 
Jede lebende Sprache ist in einem ständigen Wandel begriffen. In den volkstümlichen Umdeutungen zeigt sich dieser Wandel in einer seiner originellsten Facetten.
 
 
© Heinz Rölleke für  die Musenblätter 2020