Gequälte Kunst eines verzweifelten Genies

Ingo F. Walther / Rainer Metzger - „Van Gogh Sämtliche Gemälde.“

von Johannes Vesper

„Gequälte Kunst eines verzweifelten Genies“
 
Van Gogh - Sämtliche Gemälde
 
Von Johannes Vesper
 
Er war ein ehrenhafter Mann und ein großer Künstler... kannte nur zwei Ziele: die Menschlichkeit und die Kunst“ sagte Arzt und Freund Dr. Gachet bei der Beerdigung von Vincent van Gogh am 30.07.1890. Vincent van Gogh, 37 Jahre alt, hatte sich eine Kugel in die Brust geschossen, um sein dürftiges Leben zu beenden. Auch Pfeife Rauchen half nicht mehr.
 
2018 wurden auf dem Kunstmarkt der Welt gut 67 Milliarden Dollar umgesetzt, knapp 10% mehr als im Jahr zuvor und van Goghs Porträt von Dr. Gachet schon 1990 für gut 80 Millionen Dollar verkauft. Die Diskrepanz zwischen der Kunst, dem armseligen Leben des Malers und den Preisen, die heutzutage für seine Werke als Vermögensanlage bezahlt werden, ist wie überhaupt der heutige Kunstmarkt eine eigene Betrachtung wert.
Pfarrerssohn Vincent, der seine Lehre zum Kunsthändler abgebrochen hatte, eiferte als „religiöser Schwärmer“ und Laienprediger dem Vater wenig erfolgreich nach. Seinen Vertrag hatte der Kirchenvorstand der Gemeinde im nordfranzösischen Kohlerevier nach der Probezeit nicht verlängert. In dieser schwarzen Region der Kohlegruben, der Umweltzerstörung und der Armut lebte Vincent ohne Einkommen zeitweise wie der heilige Franziskus in einer verfallenen Hütte von Wasser und Brot, kümmerte sich um die Ärmsten der Armen, deren Dankbarkeit ihm als Lohn reichen mußte. Immerhin wurde ihm in dieser Zeit langsam klar, daß Kirche und Bibel vielleicht doch nicht sein Leben bestimmen würden und er sich zur Kunst berufen fühlte.
 
Künstlerischer Beginn in Holland
 
Mit einer ersten Postanweisung des im Kunsthandel erfolgreichen zwei Jahre jüngeren Bruders nahm seine Entwicklung zu Malerei und Kunst Fahrt auf. Nach dem Besuch der Kunstakademie in Brüssel (10/1880-3/1881) verliebte er sich anläßlich von Besuchen bei seinen Eltern in eine junge Witwe mit Kind, die aber von ihm nichts wissen wollte. Als er zum Beweis seiner ernsten und ehrlichen Absichten seine linke Hand in der Flamme einer Kerze hielt, verletzte er sich ernsthaft, vermochte aber damit nicht zu überzeugen. Er zog nach Den Haag (1181), nahm dort wieder Malunterricht bei dem damals führenden niederländischen Landschaftsmaler Anton Mauve und kopierte zu Studienzwecken Bilder von Jean Francois Millet. Hier mußte er im Gemeindekrankenhaus drei Wochen lang wegen einer Syphilis behandelt werden, damals mit durchaus gesundheitsgefährdenden Quecksilberpräparaten. Alle vierzehn Tage suchte er ein Bordell auf, litt unter diffusen Ängsten vor Frauen, vor Erfolglosigkeit, vor Einsamkeit und Versagen, sublimierte seine Triebenergie, wie die Psychoanalytiker glauben, in dem er wie besessen „malte, was er dachte“: knapp 900 Bilder in neun Jahren. „Malen und viel Vögeln verträgt sich nicht. Das schwächt das Hirn“ glaubte er.
 Der Versuch einer Familiengründung mit der alkoholkranken und bereits schwangeren Prostituierten Sien scheiterte und Vincent zog zu seinen Eltern nach Nuenen (12/83-11/85), wo der Vater inzwischen als Pastor tätig war. In Nuenen entstanden mehr als 180 Gemälde, u.a. zahlreiche Kopfstudien, die berühmten „Kartoffelesser“, natürlich Landschaften mit Bauernhäusern, Szenen mit Webern am Webstuhl und dunkle Stillleben. Im August 1884 entwickelte sich ein Verhältnis zur zehn Jahre älteren Margot B., die bei fehlender Perspektive für Ehe und Familie mit Gift einen Suizidversuch unternahm. Vincent zog, immer unterstützt vom in Paris als Kunsthändler erfolgreichen Bruder Theo, nach Antwerpen (1885-86), ließ sich dort sein Gebiß sanieren, besuchte die Akademie, wo ihm die Modelle kostenlos zur Verfügung standen, und begann japanische Farbholzschnitte zu sammeln. Spätestens seit der Weltausstellung in Paris 1867 war japanische Kunst in Europa en vogue und die Holzschnitte von Hiroshige, Utamaro, Eisen u.a. begehrt und bekannt. Der Japonismus, erinnern wir uns an die große Ausstellung im Folkwang Museum 2014, übte einen gewaltigen Einfluß auf die europäische Malerei und auch auf Vincent aus, der schrieb: „Meine ganze Arbeit baut sich sozusagen auf den Japanern auf“. Bezüglich seiner eigenen Gesundheit bestand bei ständigen Magenschmerzen und fortgesetztem Nikotinabusus (Pfeife!) eine gewisse sarkastische Skepsis. Der Schädel mit brennender Zigarette“ (1885) aus dieser Zeit kann durchaus als eines der ersten Selbstbildnisse angesehen werden.
 
Paris 1886-1888
 
Inzwischen lebte er in Paris, wo er Toulouse-Lautrec, Signac, Emile Bernard später auch Georges Seurat u.a. kennenlernte. Auf seinen Selbstbildnissen erscheint er jetzt großstädtisch, fast elegant gekleidet, malt unter dem Einfluß des Impressionismus Straßenzüge und Alleen, Großstadt- und Parkszenen, malt Blumenstilleben als Farbstudien, obwohl er von den Impressionisten zunächst „bitter, bitterlich enttäuscht“ war, sie „schludrig, häßlich, schlecht gemalt, schlecht gezeichnet, schlecht in der Farbe, kurz miserabel“ fand. Ein letztes Mal belegte er, der nie systematisch das Malen gelernt hatte, Malkurse bei Fernand Cormon, dem bekannten Historienmaler seiner Zeit, und entwickelte zunehmend seinen eigenen Stil mit pointilistischem, gelegentlich auch verdünntem Farbauftrag. Es finden sich Motive aus Japan, Porträts, drei Akte von Madame Segatori, mit der ihn ein kurzes Verhältnis verband. Vincent wohnte zeitweise am Montmartre in der Rue Lepic 54 mit seinem Bruder zusammen, der das Zusammenleben allerdings fast unerträglich fand. Ob sich hier unbewußte Vaterkonflikte manifestierten? Erste Berührungen mit dem Kunstmarkt nahmen ihm nicht seine diffusen Ängste. Als seine Mutter im Mai 1886 von Nuenen nach Breda umzog, verkaufte sie 70 Bilder für einen Spottpreis an einen Trödler, der sie kaum los wurde und den Rest verbrannt hat! Vincent lernte Paul Gauguin kennen, verließ im Februar 1888 Paris, wo er mehr als 200 Bilder gemalt hatte, und zog nach Arles, wo er hoffte, seine Einsamkeit mit Paul Gauguin zu überwinden.
 

  Vincent van Gogh - Sonnenblumen, 1888

Arles 1888-1890
 
Dort malte er bei hartem Winter Landschaften im Schnee mit Arles im Hintergrund und wenige Wochen später im März 1888 den „blühenden Pfirsichbaum“ im Gedenken an seinen Lehrer Anton Mauve. Trotz Zahnschmerzen und Magenbeschwerden entstanden während der Baumblüte zahlreiche Bilder von Obstgärten in Weiß und Rosa, Weizenfelder in Gelb, Serien von symbolträchtigen Sonnenblumen, Weinberge und Herbstbilder, u.a. auch die berühmte Brücke von Langlois.
 
Kisten mit Gemälden schickte er per Eisenbahn an seinen Bruder nach Paris. Die in Arles gemalten Bilder gewannen bei naturferner Farbigkeit zunehmend an Leuchtkraft. Vincents konfliktreiche Psyche, sein Temperament wird im Malprozeß selbst durch energie- und bewegungsreiches, großzügiges Auftragen von viel Farbmaterial beim fertigen Bild gleichsam konserviert sichtbar. Vincent freundete sich mit dem Landboten Joseph Rolin an und porträtierte ihn mehrfach. Oft schlief er tagsüber und malte nachts beim Licht von Kerzen, die am Hut oder an der Staffelei befestigt wurden.


   Vincent van Gogh - Sternnennacht über der Rhone, 1888

Im „gelben Haus“ mietete er 4 Zimmer an und träumte von einer Künstlergemeinschaft mit Paul Gauguin, der trotz seinen ständigen Geldmangels endlich am 23.10.88 aus der Künstlerkolonie Pont Aven (Bretagne) nach Arles angereist kam. Bruder Theo in Paris verkaufte und stellte auch schon in Pont Aven entstandene Bilder von ihm aus, konnte so die ständige Geldnot lindern. Die beiden Maler lebten, kochten, malten zusammen, diskutierten zunehmend engagiert miteinander über ihre differenten Kunst- und Kunsttheorien bis hin zu handfestem Streit am 23.12.1888. Gauguin verließ die gemeinsame Wohnung. Vincent wollte ihn, vielleicht bei durchbrechendem Vaterhaß, wie Psychoanalytiker spekulieren, mit dem Rasiermesser umbringen, lenkte die Aggression aber gerade noch um und schnitt sich selbst einen Teil des rechten Ohres (siehe „Selbstbildnis mit verbundenem Ohr“, Januar 1889) ab. Mit dem in Zeitungspapier eingepackten Ohr lief er sogleich ins Bordell und schenkte es der Prostituierten Rachel. Gauguin reiste ab; Theo kam aus Paris und kümmerte sich. Wegen Wahnvorstellung und Schlaflosigkeit wurde Vincent wenige Wochen später erneut zur stationären Behandlung gebracht, weil eine Gruppe von 30 Bürgern in Arles wegen bleibender psychischer Auffälligkeiten die Einweisung des „rothaarigen Verrückten“ in einer Petition beim Bürgermeister verlangt hatte. Seine Wohnung im „gelben Haus“ wurde polizeilich versiegelt. Bald durfte er aber In Begleitung seines Freundes Paul Signac, der ihn bei seinem Besuch in völliger körperlicher und geistiger Gesundheit angetroffen hatte, die Klinik wieder verlassen. Seine psychische Situation blieb aber kritisch. Am 8. Mai 1889 suchte Vincent auf eigenen Wunsch das „Asyl für Geisteskranke“ in St. Remy auf. Bruder Theo zahlte die Behandlungs- und Unterbringungskosten für zwei Zimmer. Eine Epilepsie (?) wurde diagnostiziert, wobei Alkoholismus und Schizophrenie ursächlich durchaus in Frage kamen. Trotz der Behandlung - zum Teil mit eiskalten Wannenbädern - erholte sich Vincent erstaunlicherweise in dem Nervenasyl, durfte ausgehen, malte auch und schluckte eines Tages, vielleicht in suizidaler Absicht, giftige Farben.


  Vincent van Gogh - Selbstporträt, 1888

Es kam in Paris zu einigen Ausstellungen, auf denen er mit mehreren Bildern vertreten war. Auch zur Ausstellung der Zwanzig im November 1880 in Brüssel wurde er zusammen Cézanne, Renoir, Toulouse-Lautrec, Signac, Sisley u.a. eingeladen. Eines seiner Bilder („Der rote Weinberg“) wurde tatsächlich verkauft, wahrscheinlich das einzige zu seinen Lebzeiten. Nach knapp einem Jahr in der „Irrenanstalt“ von St. Remy glaubte er nicht mehr, daß ihm dort geholfen werden könnte und zog nach Auvers-sur-Oise, wo er von einem bekannten Arzt und Freund betreut wurde. Auch dort malte er weiter, in den zwei Monaten vor seinem Tod bei ungebrochenem Schaffensdrang noch über 80 Gemälde: Gärten, Kornfelder, den Ort Auvers mit Kirche und Rathaus, Porträts der Familie Dr. Gachets. Bei einem Spaziergang am 27.Juli 1890 schoß er sich eine Kugel in die Brust. Die Ärzte am Ort konnten die Kugel nicht entfernen, Bruder Theo, der ihn immer unterstützt und ihm sein Leben finanziell ermöglicht hat, wurde aus Paris herbeigerufen. Vincent rauchte noch einen ganzen Tag seine Pfeife und verstarb am 29.07.1890.
Beide Brüder als Repräsentanten ihrer jeweiligen Welt – hier der erfolgreiche, opportunistische, bürgerliche Kunsthändler, dort der in Armut und materieller Not authentische Versager am Rande der Gesellschaft, der unter bürgerlichen Gesichtspunkten lebensunfähige Kranke in der Nervenheilanstalt, spiegeln das damalige spannungsreiche Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft wieder.
 
Auf 700 Seiten werden in 6 Kapiteln Leben und Werk des Künstlers ausgiebig und sachkundig, am Ende auf 20 Seiten als biografische Kurzfassung, abgehandelt und sämtliche 873 Gemälde (oder doch nur 871?) in bewährt vorzüglicher Druckqualität dargeboten. Die Essays stammen von Ingo F. Walther (1940-2007) und Rainer Metzger, beide ausgewiesene Kenner der Materie. Zuletzt finden sich endlich ein Register sämtlicher Werke des Malers und ein Namensregister, die die Orientierung im Werk erleichtern. Außerdem regt die nach Stichworten geordnete ausführliche Bibliografie den Interessierten zu weiterer Auseinandersetzung an.
 

    Vincent van Gogh - Zypressen, 1889

Ingo F. Walther / Rainer Metzger - „Van Gogh Sämtliche Gemälde.“
© 2020 Taschen GmbH, Originalausgabe, 751 Seiten, 21 x 26 x 6,8 cm, 3,42 kg - ISBN 978-3-8365-7290-3
40,- €    
Weitere Informationen: www.taschen.com
 
Johannes Vesper