„Die Gedanken sind (zoll)frei“ (1)

Geschichte und Ausdeutungen eines berühmten Zitats

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 
„Die Gedanken sind (zoll)frei“
 
Geschichte und Ausdeutungen eines berühmten Zitats (1)
 
Von Heinz Rölleke
 
Mit der an König Philipp II. gerichteten Forderung „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ beendet der für Freiheit kämpfende Marquis Posa seine flammende Rede, die ihm Friedrich Schiller 1787 in seinem Drama „Don Karlos“ in den Mund gelegt hat. Die Parole fand sofort großen Widerhall und trug wohl dazu bei, daß dem Dichter wenig später (1792) durch die revolutionäre Regierung die Ehrenbürgerschaft der Französischen Revolution verliehen wurde. Andere politische Regime in aller Welt reagierten allerdings allergisch auf diese Parole, so daß Schillers Drama zum Beispiel in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft unerwünscht war und noch jüngst (2013) der berühmte Dresdner Kreuzchor das Volkslied „Die Gedanken sind frei“ aus dem für eine Chinatournee vorgesehenen Programm strich, um einen wohl zu erwartenden Eklat zu vermeiden.
 
Das teils begeistert nachgesprochene, teils verfemte Wort von der Gedankenfreiheit hat eine lange und wechselvolle Geschichte, deren Stationen hier in gebotener Kürze vorgestellt seien.
 
In den Schriften des Propheten Jesaja (im 8. Jahrhundert v. Chr.) entrüstet sich Gott über die von ihm durchschauten Gedanken der Israeliten: „ein ungehorsames Volk, das seinen Gedanken nach wandelt auf einem Wege, der nicht gut ist.“ Später greifen vor allem Prediger in ihrem Urteil über die Freiheit der Gedanken darauf zurück, indem sie diese als schädlich betrachten oder gar schlichtweg verbieten wollen.
 
Anders faßten das die Denker der Antike auf: „Liberae sunt nostrae cogitationes“, frei sind unsere Gedanken, heißt es im Jahr 52 v. Chr. in Ciceros Rede „Pro Milone“. Der römische Jurist Ulpianus Domitius wertete Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr. in seinen „Digestes“ zum „Corpus iuris“ alle Gedanken als grundsätzlich straffrei: „Cogitationis poenam nemo patitur“ (für seine Gedanken wird niemand bestraft, muß keiner eine Strafe befürchten) – ein bis heute gültiger Rechtsgrundsatz, der in viele Sprachen übersetzt wurde: „Le idee sono libere“, „Vår tanke er fri“, „Elles sont libres les pensées“ oder parallel zum Schiller'schen Wortgebrauch „Liberté de penser“, „Thought is free“, wie Shakespeare im Lustspiel „Was ihr wollt“ und in seinem letzten Werk „Der Sturm“ formuliert. Goethe und Heine - beide studierte Juristen, denen die Sentenz des Domitius vertraut war - greifen den römischen Spruch auf und erweiterten ihn auf ihre Weise. Goethe im Gedicht „Eigentum“: „Gedanke, der ungestört aus meiner Seele will fließen“ und Heine in seinem 1844 erschienenen Vers-Epos „Deutschland. Ein Wintermärchen“ anläßlich einer Visitation durch deutsche Zöllner:
                                                
                                               „Sie suchten nach Spitzen nach Bijouterien.
                                               Auch nach verbotenen Büchern.
                                                Ihr Toren, die Ihr im Koffer sucht!
                                               Hier werdet Ihr nichts entdecken!
                                               Die Contrebande, die mit mir reist,
                                               Die hab' ich im Kopfe stecken.
                                               Hier hab' ich Spitzen, die feiner sind
                                               Als die von Brüssel und Mecheln,
                                               Und pack' ich einst meine Spitzen aus
                                               […]
                                               Im Kopfe trage ich Bijouterien.“
 
Angeregt wurde dieser Spott durch einen Zeitungsartikel aus dem Jahr 1836: Ein „Spekulant von Kontrebandirern“ habe versucht, feine Brüsseler Spitzen („pensées“) mit der Ausrede „Gedanken (pensées) sind zollfrei“ über die Grenze zu bringen. Schon 1829 hatte Heine den Spruch „Gedanken sind zollfrei“ in seinem Aufsatz „Shakepeares Mädchen und Frauen“ zitiert. Mit seinem engagierten Auftreten für die Forderung, daß die Bücher „zollfrei“ (das heißt ohne Zensur) wie die Gedanken „zollfrei“ Grenzen überschreiten sollten, widerspricht er direkt einer Aufforderung des sonst so fortschrittlichen Denkers Johann Gottfried Herder, der 1793 einschränkungslos zustimmend Montaigne zitiert hatte:
 
                                               „Bücher, die Einfuhr fremder Gedanken, ist hier zollfrei. Eine
                                               Zensur wäre nützlich: nur Werke von wahrem innern Wert sollten
                                               eingeführt und gelesen werden können.“
 
Übernahmen des Gedankens aus den Digestes des Ulpianus Domitius finden sich in der deutschen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts; Luther im frühen 16. Jahrhundert: „Denn wahr ist das Sprichwort Gedanken sind zollfrei“; etwa zeitgleich (1522) bei Johannes Pauli: „Gedanken sind zol frei“ („Schimpf und Ernst“); Georg Harsdörffer: „Unsre Gedanken sind […] zohl frei“ („Mordgeschichten“; 1649); der studierte Jurist Caspar von Lohenstein greift 1680 im Gedicht „Maria Coronalia“ besonders deutlich auf Domitius zurück: „Gedanken sind von Zoll und Strafen zu entbinden“; der Prediger Benjamin Schmolck (um 1700) im Kirchenlied „Wie suchet dich die falsche Welt“: „Gedanken sind vom Zolle frei“.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts häufen sich die literarischen Belege.
Musäus, der diese Redensart auch in eines seiner beliebten Märchen aufgenommen hat („Gedanken, Freund, sind zollfrei“) reflektiert in seinem „Grandison“-Roman von 1760:
 
                                               „Was ich Ihnen geschrieben habe, das sind bloß meine
                                               Gedanken gewesen, und Gedanken sind Zollfrei.“
 
Knapp fünfzig Jahre später läßt Zacharias Werner in seinem Luther-Drama „Die Weihe der Kraft“ den Reformator dessen originalen Ausspruch wiederholen: „Gedanken sind zollfrei, Herr Legat!“

Bezeichnenderweise in einem frühen Werk des Sturm und Drang (Heinrich Leopold Wagners „Die Kindermörderin“; 1776) sagt es eine ältliche Frau, der ein scheinbarer Verehrer ein unglaubwürdiges Kompliment gemacht hat:
 
                                               „Ja, das sagt er so: Gedanken sind zollfrei, denkt er; -
                                               wenn nur ein Spiegel da wäre!“
 
Lesen Sie morgen an dieser Stelle den zweiten Teil des Artikels

© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020