Nichts Gesprochenes bleibt ohne Folgen

Cêcilie Wajsbrot – „Zerstörung“

von Johannes Vesper

„Es geht um Gefühle, um Augenblicke…“ -
„Wir dachten, wir glaubten wir träumten unsere Gesellschaft sei unzerstörbar“
 
Nichts Gesprochenes bleibt ohne Folgen
 
Mein Leben habe ich - hatte ich - den mit Lesen und Schreiben verbrachten Stunden des Rückzugs gewidmet“. So beginnt dieser Text. Tagsüber schreibt sie und nachts spricht sie mit einem unbekannten Gegenüber, welches sie konsequent siezt. Sonnenfinsternis, Mondfinsternis dienen als Metaphern für die Dunkelheit des Lebens und der Gedanken. Den Berliner Mond sucht sie nicht nur mit den Augen am nächtlichen Himmel sondern auch mit ihrer Seele. In Berlin kennt sie sich noch nicht gut aus, erfahren wir. Dort werde sie durch die Lücken im Stadtbild an die stattgehabte Zerstörung der Stadt erinnert. In diesem Roman geht es um Zerstörung, die von einem unheimlichen Regime verordnet worden ist. Dank der Corona-Pandemie mit verordneten Lockdown bekommt der Text eine Aktualität, die bei seinem ersten Erscheinen 2019 nicht zu erahnen war. Beklemmend.
 
Handelt es sich überhaupt um einen Roman? Es handelt sich nicht um die faktuale Erzählung einer stattgehabten Handlung. Es handelt sich aber jedenfalls um Prosa, in der die Autorin über ihre Existenz, über ihr Schicksal und das ihres Landes nachdenkt. Dessen katastrophalen Zustand vergleicht sie in ihren nächtlichen Gesprächen mit den umfassenden Zerstörungen, wie sie der Orkan Katharina hinterlassen hat. Der Begriff „Zerstörung“ wird im Laufe des Textes mit Inhalt gefüllt und erläutert. Alles scheint zerstört werden zu müssen. Sie selbst komme aus einer vergangenen Welt, in der verlangt worden sei, diese zu retten, in der aber „die virtuelle Empörung das Handeln und die Reflexion das Bewußtsein ersetzt hat“. Man glaubte, bequem von zu Hause durch Anklicken von Petitionen im Internet gegen politische Haftstrafen in der Türkei, gegen das Bombardement in Syrien, gegen Ausländerfeindlichkeit und gegen vieles andere Weltrettung betreiben zu können. Ihre Bücher hat die Erzählerin weggeworfen bis auf 20, deren Titel sie nicht verrät. Bücher, die ja eine „Atmosphäre von Wärme und Sicherheit“ vermitteln, verschwinden aus den Wohnungen, werden von Schergen des totalitären Regimes abgeholt. Früher sind auch schon mal verbrannt worden. Was passiert mit den aus Buchstaben erzeugten Parallelwelten, die beim Lesen im Leser entstehen? Sie werden zerstört. Auch Wörter werden ausgelöscht, geraten in Vergessenheit. Wer kennt schon noch dat Ballertiutje? Gibt es Wortfriedhöfe? In den Alleen alter Friedhöfe spazierend, starrt man geradezu in die Vergangenheit. All die Toten unter den Steinen wohnen ebenfalls in der Stadt. Alles wird abgeschafft. Die Geschichte wird ausgelöscht, Gedenktafeln an den Hauswänden werden abgenommen und historische Straßennamen verschwinden. In der Grammatik wird die Vergangenheit abgeschafft. Im Roman verordnete die Regierung per Gesetz, daß alles, was älter als 10 Jahre ist, zu verschwinden hat, wobei ja die Demenz der Computer, Festplatten und der verschiedensten technischen Speichermedien schon lange thematisiert wird. Weder begrifflich noch historisch oder geographisch wird das Regime, welches die Kultur systematisch zerstört und durch seichte Unterhaltungsware ersetzt, näher beschrieben. Es bleibt seltsam unbestimmt. Mal ist von Paris, mal von Berlin die Rede.
Die Autorin bemerkt wie bei zunehmender Zerstörung der Kultur ihre eigene Isolation und Einsamkeit zunimmt und Angst in ihr hochsteigt, die Angst vor der Masse an der Macht. Bei ihren Spaziergängen gerät die Erzählerin in Demonstrationen, hört Gebrüll abgedroschener Phrasen und Glasbruch, sieht Verletzte auf dem Boden liegen und im Fernsehen später immer wieder die gleichen Bilder. Beim Anblick der Gedenktafel für Adalbert von Chamisso in Berlin erinnert sie an diesen Schriftsteller und Biologen, der sich in Deutschland als Franzose und in Frankreich als Deutscher gefühlt hat und der dem Peter Schlemihl seinen Schatten nimmt, Sinnbild für das Verschwinden des Zusammenhörigkeitsgefühls, für das Ausgegrenztsein in einem zerstörten, verlorenen Land? Oder Symbol für den Wunsch nach einer Rückkehr in unsere Vergangenheit aus Angst vor der Zukunft?
 
In ihrem Sound Blog immer sonntagnachts, mit dem sie an einem geheimnisvollen Experiment ihres Gesprächspartners teilnimmt, redet sie über sich, wie sie die zunehmende Leere der Welt empfindet. Nichts Gesprochenes bleibe ohne Folgen. Um was für Experiment geht es? Mit wem spricht sie? Wer ist dieses Alter Ego hinter dem Handy? Ist es nur eine elektronisch erzeugte Kunststimme? Handelt es sich um die Stimme eines Untoten? Aber mit einem Thriller hat dieser Text nichts gemein.
 
Keine leichte Unterhaltungslektüre, verfehlt dieser fahle, stellenweise kryptische Text, in dem Nacht für Nacht existentielle Fragen erwogen werden, gleichwohl seine Wirkung auf den Leser nicht und stimmt nachdenklich. Viele Sätze werden nicht vollendet, einzelne Wörter, oder Satzfetzen isoliert im Text verwendet oder jeweils mit Bindestrich an den Zeilenanfang gesetzt. Worthülsen mag die Erzählerin nicht und möchte der „Banalität der Sprache“, in der sie die Ursprünge alles Übels vermutet, entgehen. Fünfzehn Kapitel wurden auf fünf „Bücher“ aufgeteilt, denen jeweils ein kurzes Vorwort vorangestellt wurde.
Es geht in diesem Buch eigentlich nicht um Vergangenheit, auch nicht um Gegenwart, „in der wir unbekümmert, dahinlebten, gleichgültig dem gegenüber, was tatsächlich geschah“. Gegen Ende bewältigt ein Flashmob, der mit einem einsamen Cellisten beginnt, sich ausbreitet mit Geigen, Kontrabässen, einer Dirigentin, einem Chor zur „Hymne an die Freude“ anschwillt, sogar die Polizei. Kann die Musik Beethovens vielleicht doch einem gewissen Optimismus Raum geben? Ist angesichts der Texte von Homer, Lukrez, Platon, Shakespeare, Achmatowa, Tolstoi, Chamisso und Blanqui, auf die Bezug genommen wird, eine andere Zukunft zu erwarten? Blanqui wurde wie Chamisso nicht in den Literaturnachweis am Ende aufgenommen.
 
Die französische Schriftstellerin, Essayistin, Übersetzerin, geboren 1954, stammt aus einer polnisch-jüdischen Familie, die nach Frankreich geflohen war. Etliche ihrer Werke wurden ins Deutsche übersetzt. Sie wurde u.a. ausgezeichnet mit dem deutsch-französischen Kultur- und Literaturpreis Prix de l’Académie de Berlin und lebt in Paris und Berlin.
 
Cêcilie Wajsbrot – „Zerstörung“
(Originaltitel: Destruction © Le Bruiz du temps, Paris 2019), aus dem Französischen von Anne Weber,
© 2020 Wallstein Verlag Göttingen, 230 Seiten, gebunden, Schutzumschlag - ISBN 978-3-8353-3610-0
20,-€
Weitere Informationen: www.wallstein-verlag.de