Eumeniden mit gestutzten Flügeln

Donna Leon – „Geheime Quellen“

von Frank Becker

Eumeniden mit gestutzten Flügeln
 
Schmutziges Wasser
 
Je länger die Bekanntschaft des Lesers mit dem venezianischen Commissario Guido Brunetti andauert – immerhin begleitet man ihn in Donna Leons neuem Roman bei seinem 29. Fall - umso näher kennt man ihn, seine Gedankenwelt, sein berufliches und persönliches Umfeld. Für vermutlich die meisten Leserinnen und Leser haben Brunetti, seine Frau Paola, seine Kinder Chiara und Raffi, sein Chef Giuseppe Patta, sein Kollege Lorenzo Vianello, die Kollegin Claudia Griffoni und Pattas hilfreiche Sekretärin Signorina Elettra Zorzi neben dem übrigen Stammpersonal auch längst ein Gesicht. Die TV-Verfilmungen haben so nachhaltig dafür gesorgt, daß man als deutscher Leser auch nach der beschlossenen Einstellung der Fernsehreihe bei der Lektüre der weiteren Romane ihre Gesichter vor Augen haben wird.

Donna Leon hat mit ihrem Commissario Brunetti einen aus kleinen Verhältnissen kommenden Intellektuellen geschaffen, einen Mann, der mit absolviertem Jura-Studium und mit einer aus bester venezianischer Familie stammenden Universitätsprofessorin verheiratet, einen Ermittler außerhalb der Norm darstellt. Dienstlich hartnäckig am Fall und elegant die Hürden von Bürokratie und Datenschutz umschiffend, ist er bei allem Häßlichen ein Philanthrop geblieben, der im Privaten ein liebevoller Ehemann und Vater, Gourmet und Leser der klassischen griechischen und römischen Literatur ist. Einen Roman von Donna Leon würde er sicher nicht anrühren

Sein neuer Fall beginnt mit dem Wunsch einer Sterbenden, den Tod ihres Mannes aufzuklären, der kurz zuvor bei einem angeblichen Unfall umkam. Vittorio Fadalto ist auf dem Rückweg von der Arbeit bei einem Labor zur Trinkwasseruntersuchung scheinbar mit dem Motorrad von der Straße abgedrängt worden, in einem Bewässerungsgraben gestürzt und ertrunken. Bei ihren Untersuchungen und Vernehmungen stoßen Brunetti, Griffoni und Vianello auf den ungeheuerlichen Verdacht, Fadaltos Tod könne mit Manipulationen von Wasserproben, mit Gift im Trinkwasser zu tun haben. Durch Signorina Elettras Computerfähigkeiten und Kontakte öffnet sich den Kriminalisten ein verstörendes Szenario. Donna Leon legt raffiniert eine Reihe durchaus möglicher auch anderer Spuren, die den Leser bis zum dramatischen Ende mitgrübeln lassen.
Im Nebenstrang greift sie zum einen den Venedig ganz langsam, aber nachhaltig zerstörenden Massentourismus mit gewaltigen Kreuzfahrtschiffen auf – schmutziges Wasser also auch hier - und als kriminelle Komponente das Problem von Banden von Taschendieben aus dem Zigeunermilieu, denen einfach nicht beizukommen ist. Den Pessimismus Brunettis hinsichtlich Korruption und Vetternwirtschaft in Verwaltung, Ministerialbürokratie, Polizei und mafiösen Strukturen in der Großindustrie kennen wir. Donna Leon läßt durch ihre Romanfiguren spüren, welche düstere Grundstimmung in dieser Hinsicht in Italien zu herrschen scheint. Der Fall Fadalto ist Mord gewesen, die Lösung ist einigermaßen überraschend.
 
Donna Leon – „Geheime Quellen“
Commissario Brunettis neunundzwanzigster Fall
Übersetzung: Werner Schmitz
© 2020 Diogenes Verlag, 316 Seiten, Ganzleinen Schutzumschlag - ISBN: 9783257070996
24,- €
Weitere Informationen: www.diogenes.ch