Was alles wir der chinesischen Fledermaus verdanken

Aus meinem Corona-Logbuch V

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Ryszard Kopczynski
Michael Zeller
 
Was alles wir der chinesischen Fledermaus verdanken
 
Corona-Logbuch Folge 5
 
Sie war angekündigt worden wie ein Staatsgast, 1832, in Paris. Man wußte Bescheid. Man war vorbereitet. In London hatte sie Hof gehalten, die Cholera, durchaus kein Schreckensregiment entfaltet, eher beiläufig regiert, wie es schien, aus der Ferne. Außerdem war London weit. Und wer weiß, diese Engländer …
Ihre Ankunft war den 29. März officiell bekannt gemacht worden, aber dieser Termin paßte den Parisern nun gar nicht in den Kram. Man hatte durchaus andere Nöte und Sorgen, Sorgen um die rechte Ausgelassenheit vor allem. Es war just Fastnacht an diesem 29. März, das Wetter frühlingshaft warm, die Sonne schien angenehm auf die Haut, und die Masken, mit denen die Pariser sich auf den Boulevards zeigten, gaben ihnen das Gefühl, vogelfrei zu sein. Ob die Seuche sich anstecken ließe von der Fröhlichkeit der Pariser und vielleicht sogar weiterzöge, weil sie ihre Schutzbefohlenen nicht erkennen konnte, verkleidet wie sie waren? Getanzt wurde auf den Straßen, gesungen, gelacht – als plötzlich der lustigste der Arlequine eine allzu große Kühle in den Beinen verspürte, und die Maske abnahm, und zu aller Welt Verwunderung ein veilchenblaues Gesicht zum Vorscheine kam. Offenbar war das kein Spaß mehr. Unter der Maske des Karnevals saß hautnah die Fratze der Seuche.
 
In ihren Kostümen noch verfrachtete man die ersten Kranken in Kutschen nach dem Hôtel-Dieu, dem Central-Hospitale, wo sie gleich verschieden. So schnell wurden sie unter die Erde gebracht, daß man ihnen nicht einmal die buntscheckigen Narrenkleider auszog, und lustig, wie sie gelebt haben, liegen sie auch lustig im Grab.
 
Diese Geschichte erfahre ich von einem Landsmann und Kollegen, der damals, 1832, während der Seuche, in Paris lebte, als Exilant, und mir jetzt, an diesem späten Juniabend, davon erzählt, im Angesicht einer anderen Seuche. Er scheint, so wie seine Stimme klingt, ein kaltblütiger Mensch gewesen sein.
 
Ich bin mir zwar nicht bewußt, die mindeste Unruhe empfunden zu haben, aber es ist doch sehr störsam, wenn einem beständig das Sicheldengeln des Todes allzu vernehmbar ans Ohr klingt. Auch an Flucht dachte der Gewährsmann, wie sonst viele Ausländer in Paris, keinen Wimpernschlag lang. Fühlte er sich denn, damals ein Mann Mitte Dreißig, so sicher in seinem Körper, hielt er sich für ganz unangreifbar – oder fesselte ihn die Neugierde an den Ort, eine berufsmäßige Neugierde, die über die Angst siegte? Die Freude dabei zu sein, etwas Außergewöhnliches zu erleben, Zeuge zu sein eines herausgehobenen historischen Augenblicks – dieser Kitzel jedenfalls schwingt mit in der selbstbewußten Bemerkung, seine Beschreibung der Cholera sei gleichsam ein Bulletin, welches auf dem Schlachtfelde selbst und zwar während der Schlacht geschrieben worden, und daher unverfälscht die Farbe des Augenblicks trägt.
 
Immerhin: Seine Arbeitspläne gibt er auf, der Landsmann und Kollege. Statt, wie vorgehabt, die Geschichte der Französischen Revolution zu schreiben, läßt er sich als Chronist auf die Leiden des Tages ein: denn ich wurde in meiner Arbeit viel gestört, zumeist durch das grauenhafte Schreien meines Nachbars, welcher an der Cholera starb.
 
Wer mag bei solchem Lärm in aller Ruhe die Revolution studieren (obwohl die ja auch nicht gerade leise ist)? Lassen wir uns also mitziehen von ihm, wenn er neugierig-nervös über die Boulevards flaniert, und sehen uns mit eigenen Augen die Leichenberge dort an, hoch auf einander geschichtet, viele hundert weiße Säcke, denn die Särge waren längst ausgegangen. Die Leichenwächter zählten mit unheimlicher Gleichgültigkeit ihre Säcke den Totengräbern zu, und diese wieder, während sie solche auf ihre Karren luden, wiederholten gedämpfteren Tones die Zahl oder beklagten sich grell laut, man habe ihn einen Sack zu wenig geliefert, wobei nicht selten ein sonderbares Gezänk entstand. Es muß also Kopfgeld gegeben haben für die Totengräber, folgern wir auf eigene Faust, da der Gewährsmann über den Grund ihrer Aufregung lieber schweigt.
 
In Fiakern und Möbelwagen mußten die Säcke auf die Friedhöfe gekarrt werden, weil die vorhandenen Leichenwagen in der Stadt bei weitem nicht mehr ausreichten. Widerwärtig war es anzuschauen, wenn die großen Möbelwagen jetzt gleichsam als Todten-Omnibusse herumfahren.
 
Und Gerüchte um die Seuche wucherten in der Stadt, Hysterien rissen die Massen hin. Eine politische Verschwörung stecke hinter diesem Massensterben. Giftmischer seien am Werk, gedungen von den Bourbonen oder den Republikanern, je nach dem eigenen Credo. Sechs Menschen wurden aufs unbarmherzigste ermordet. Es giebt keinen gräßlicheren Anblick, als solchen Volkszorn, wenn er nach Blut lechzt und seine wehrlosen Opfer hinwürgt. An der Straße St. Denis hörte ich den alt berühmten Ruf ´À la lanterne! ´ und mit Wuth erzählten mir einige Stimmen, man hänge einen Giftmischer. Die Einen sagten, er sei ein Karlist, man habe die Bourbonen-Lilie auf einem Dokument in seiner Tasche gefunden; die Anderen sagten, er sei ein Priester, ein Solcher sei Alles fähig. Auf der Straße Vaugirard, wo man zwei Menschen, die ein weißes Pulver bei sich gehabt, ermordete, sah ich einen dieser Unglücklichen, als er noch etwas röchelte, und eben die alten Weiber ihre Holzschuhe von den Füßen zogen und ihn damit so lange auf den Kopf schlugen, bis er t o t war. Er war ganz nackt und blutrünstig zerschlagen und zerquetscht; nicht bloß die Kleider, sondern auch die Haare, die Scham, die Lippen und die Nase waren ihm abgerissen, und ein wüster Mensch band dem Leichnam einen Strick um die Füße und schleifte ihn damit durch die Straße, während er beständig schrie: Voilà le Cholera-morbus! Ein wunderschönes, wuthblasses Weibsbild mit entblößten Brüsten und blutbedeckten Händen stand dabei und gab dem Leichnam, als er ihr nahe kam, noch einen Tritt mit dem Fuße. Sie lachte und bat mich, ihrem zärtlichen Handwerke einige Francs zu zollen, damit sie sich ein schwarzes Trauerkleid kaufe; denn ihre Mutter sei vor einigen Stunden gestorben, an Gift.
 
So viel Aufregendes erfahren wir von der Cholera im Paris des Jahres 1832, dank unseres Gewährsmanns, den deutschen Schriftsteller im Exil. Was mich allerdings wundert: Die Krankheit selbst, ihre Herkunft, ihre Symptome, ihr Verlauf ist ohne jedes Interesse für ihn. Gerne hätte ich jedenfalls der Cholera bei ihrer Arbeit zugesehen, ihr prüfend ins Gesicht geschaut. Kein Wort dazu, obwohl der beste Freund des Chronisten krank mit ihr darnieder lag. Mehr nicht. Nur krank. Das Leiden eines einzelnen, die Qualen der Krankheit – hier wählt er das Schweigen, der sonst so beredte Mann.
 
Woher mag dieses Desinteresse rühren, frage ich mich. Am Ende doch aus einer Berührungsangst? War vielleicht der Tod zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts noch kein öffentliches Thema, wie in unserer Zeit, sondern etwas Privates, über das man nicht sprach? Oder spiegelt sich darin noch der Lakonismus einer vorwissenschaftlichen Medizin, die das Sterben fatalistisch hinnahm als eine Fügung?
 
Fragen, die wir uns heute stellen nach dem Bericht über eine Seuche vor bald zweihundert Jahren – übermittelt von unserem Korrespondenten in Paris, Heinrich Heine.
 

© 2020 Michael Zeller