Sommerstunden des Lebens (12)

Tagebuchblätter und Skizzen

von Gisela von Baum
Sommerstunden des Lebens


Coraidelstein, im Februar
 
Lieber Michael. .. Ich glaube, der Winter will nicht mehr aufhören, kaum, daß die Sonne sich ahnen läßt, darum eilen meine Gedanken oft zu vergangenen Sommertagen, um einige Stunden zu vergessen unter der Flut der Erinnerungen. - Bergen nicht gerade die kleinen, scheinbar unwichtigen Erlebnisse eine tiefere und reinere Freude als all die möglichen Schicksale und schweren Erschütterungen eines Lebens, wenn sie in schweren Stunden zu uns zurückkehren? Sind sie nicht mehr ureigenstes, ganz persönliches Erlebenkönnen, während die großen, gewaltigen Eingriffe in unser Dasein einen kleinen Beigeschmack von „Gewalt über uns hinweg" haben?  Darum kommt herbei, ihr blassen Gestalten; erneuert eure Farbigkeit, wir wollen uns freuen! Das Leben ist nicht voll ohne Kälte und Wärme, Tag und Nacht, mit offenen Augen wollen wir dich trinken, mit deinem Glanz, deiner Trunkenheit und deinen Abgründen. -
 
Du schreibst von Deinen Kohlen- und Holznöten und der vielen Schlepperei die Treppen herauf in
Deinem Olymp. Ich bin es auch oft leid, die viele Kraft und Zeit, die man für Nebensächliches vertut. Heute fehlt dies, morgen anderes, oft fehlt mir Papier zum Ofenanzünden, dann mache ich eine Razzia durch alte Zeichnun­gen, die dem Feuer geopfert werden sollen, dabei stoße ich zuweilen auf Interessantes, vertiefe mich in irgend etwas, das Feuer bleibt aus, und ich fahre - zu Eis erstarrt - aus meinen Ge­danken. -
 
Vorhin fand ich ein paar Zeichnungen von Treppen verschieden­ster Form; da hatte ich einen Einfall, ich will Dir die Kostprobe davon schicken:
 
Treppen! - Über wieviele Treppen bin ich gegangen, geschritten, geklettert, gesprungen; - ihr Rhythmus ergreift, jeder hat die Sprache seiner Zeit. - Schmale, steile, manchmal gewundene
Stiegen, spärlich be­leuchtet, die Bohlen knarren bei jedem Tritt; sie haben einen kurzen, harten Gang und erzählen von einer Kerze in der Hand, die ihren Schein gei­sterhaft an den Wänden aufleuchten läßt, und von bürgerlichem Wohlstand mit etwas beengtem Lebensstil. -Steinerne Treppen, Wendeltreppen in engen und weiten Windungen. - Jeder Tritt löst tausend Echos aus, durch
 
Bogenfenster ein Blick ins Land. - Wieviele Füße mögen sie gehastet sein, wenn das Horn vom Turm zum Kampf blies! - Viel­leicht verließ heimliches, zärtliches Glück auf leisen Sohlen das Turmge­mach oder die Kemenate, vorsichtig, daß man im Finstern die Windungen nicht zu eng nimmt, an ;die zu schmalen Stufen der Innenseite gerät, wo der Fuß keinen Halt fin­det; ist darum das Ge­länder außen so abge­griffen? -
 
Oder hatte sich täglich die müde Hand eines alten Mannes hin­aufgezogen, der einen Ausguck in die Weite suchte, die er zu Pferde nicht mehr durchstreifen konnte, um dort oben noch einmal das Halali der Jäger zu hören? -
 
Abgemesse, klar gegliederte Treppen, mit einem regel­mäßigen Absatz, Zeugnis eines scharfen, klaren Geistes. - Trep­pen, die manchmal zu Galerien eines Innenhofes, führen, von Stockwerk zu Stockwerk, die die gleiche Höhe haben; - auch die Fassaden dieser Bauwerke zeigen dieselbe mathematische Har­monie, die sich notwendigerweise auch in der inneren Aufteilung der Gebäude ausdrückt. -
 
Geschwungene Treppen, sehr viel Raum einnehmend, mit bewegter Linienführung, Heiterkeit,
 
Leichtigkeit, Macht und Luxus aus­strahlend, ihre Stufen sind flach und breit; - Damen in hohen
Stöckelschuhen und langen, weiten Röcken können sie mühelos gehen, ohne einen Augenblick ihre Grazie zu verlieren, ihren Fächer in der einen Hand wedelnd, leicht nur wie andeutungs­weise mit der anderen Hand das Gewand ein wenig anhebend, während sie mit ihrem Kavalier in gepuderter Perücke plaudern. Nüchterne Treppen, - mit vielen Schildern, - die man hinauf­hastet, an jeder Etage von einem andern, nicht immer anziehenden Geruch empfangen,  schließlich verschnauft man im fünften oder sechsten Stock, ehe man läutet oder den Schlüssel zieht, um zu öffnen. - Abgetretene Läufer zieren die Stufen, das Geländer ist poliert von vielen hundert Händen, die täglich daran herauf- und heruntergleiten. -
 
Graue Schatten sind die Menschen, die mir beim eiligen Auf- und Abstieg begegnen; ich kenne nach
 
Jahren kaum ein Gesicht. ­Armselige, einförmige Treppen, - selten la­den sie zum Verweilen ein, sind nur Stufen, die man überwindet, um sich zurückzuzie­hen in die paar Quadratmeter, die man sein eigen nennt. ­Doch auch dieser Weg kann alle Stufungen der Erregung durch­machen, deren ein Menschenherz fähig ist.
 
Auf der dunklen Hinterhaustreppe steigert sich mit jedem Absatz meine frohe Erwartung und meine Sehn­sucht; bis ich eintrete in den hellen Raum, den vertrauten Kreis, der mich begrüßt, wie­viel Traurigkeit trage ich die Stufen hinun­ter, um in meine Einsamkeit zurückzu­tauchen. ­-
 
Mächtige Quadern, wie von Giganten getürmt, deren restliche Säulenbekrönung gegen den leuchtenden Himmel ragt, - ich be­wundere die schlanken, dunklen Frauen, die mit wiegendem Schreiten schwere Lasten in Körben und Krügen wie eine Feder hinauf- und hinuntertragen. - So wird den verwaisten Göttern auch heute noch kleine Gabe gespendet, denn selbst Zeus würde seine Freude an diesen vollendeten Bewegungen haben und mehr als einmal versucht sein, seinen längstvergessenen Begierden nach­zugehen; um in der Gestalt eines Jünglings mit den Schönen zu plaudern und ihr Lachen hervorzulocken. -



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Illustrationen: Gisela von Baum