Sommerstunden des Lebens
Coraidelstein, im Februar
Lieber Michael. .. Ich glaube, der Winter will nicht mehr aufhören, kaum, daß die Sonne sich ahnen läßt, darum eilen meine Gedanken oft zu vergangenen Sommertagen, um einige Stunden zu vergessen unter der Flut der Erinnerungen. - Bergen nicht gerade die kleinen, scheinbar unwichtigen Erlebnisse eine tiefere und reinere Freude als all die möglichen Schicksale und schweren Erschütterungen eines Lebens, wenn sie in schweren Stunden zu uns zurückkehren? Sind sie nicht mehr ureigenstes, ganz persönliches Erlebenkönnen, während die großen, gewaltigen Eingriffe in unser Dasein einen kleinen Beigeschmack von „Gewalt über uns hinweg" haben? Darum kommt herbei, ihr blassen Gestalten; erneuert eure Farbigkeit, wir wollen uns freuen! Das Leben ist nicht voll ohne Kälte und Wärme, Tag und Nacht, mit offenen Augen wollen wir dich trinken, mit deinem Glanz, deiner Trunkenheit und deinen Abgründen. -
Du schreibst von Deinen Kohlen- und Holznöten und der vielen Schlepperei die Treppen herauf in
Vorhin fand ich ein paar Zeichnungen von Treppen verschiedenster Form; da hatte ich einen Einfall, ich will Dir die Kostprobe davon schicken:
Treppen! - Über wieviele Treppen bin ich gegangen, geschritten, geklettert, gesprungen; - ihr Rhythmus ergreift, jeder hat die Sprache seiner Zeit. - Schmale, steile, manchmal gewundene
Stiegen, spärlich beleuchtet, die Bohlen knarren bei jedem Tritt; sie haben einen kurzen, harten Gang und erzählen von einer Kerze in der Hand, die ihren Schein geisterhaft an den Wänden aufleuchten läßt, und von bürgerlichem Wohlstand mit etwas beengtem Lebensstil. -Steinerne Treppen, Wendeltreppen in engen und weiten Windungen. - Jeder Tritt löst tausend Echos aus, durch
Oder hatte sich täglich die müde Hand eines alten Mannes hinaufgezogen, der einen Ausguck in die Weite suchte, die er zu Pferde nicht mehr durchstreifen konnte, um dort oben noch einmal das Halali der Jäger zu hören? -
Abgemesse, klar gegliederte Treppen, mit einem regelmäßigen Absatz, Zeugnis eines scharfen, klaren Geistes. - Treppen, die manchmal zu Galerien eines Innenhofes, führen, von Stockwerk zu Stockwerk, die die gleiche Höhe haben; - auch die Fassaden dieser Bauwerke zeigen dieselbe mathematische Harmonie, die sich notwendigerweise auch in der inneren Aufteilung der Gebäude ausdrückt. -
Geschwungene Treppen, sehr viel Raum einnehmend, mit bewegter Linienführung, Heiterkeit,
Stöckelschuhen und langen, weiten Röcken können sie mühelos gehen, ohne einen Augenblick ihre Grazie zu verlieren, ihren Fächer in der einen Hand wedelnd, leicht nur wie andeutungsweise mit der anderen Hand das Gewand ein wenig anhebend, während sie mit ihrem Kavalier in gepuderter Perücke plaudern. Nüchterne Treppen, - mit vielen Schildern, - die man hinaufhastet, an jeder Etage von einem andern, nicht immer anziehenden Geruch empfangen, schließlich verschnauft man im fünften oder sechsten Stock, ehe man läutet oder den Schlüssel zieht, um zu öffnen. - Abgetretene Läufer zieren die Stufen, das Geländer ist poliert von vielen hundert Händen, die täglich daran herauf- und heruntergleiten. -
Graue Schatten sind die Menschen, die mir beim eiligen Auf- und Abstieg begegnen; ich kenne nach
Auf der dunklen Hinterhaustreppe steigert sich mit jedem Absatz meine frohe Erwartung und meine Sehnsucht; bis ich eintrete in den hellen Raum, den vertrauten Kreis, der mich begrüßt, wieviel Traurigkeit trage ich die Stufen hinunter, um in meine Einsamkeit zurückzutauchen. -
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Folgen Sie unserer jungen Freundin morgen weiter durch ihre "Sommerstunden des Lebens"!
Illustrationen: Gisela von Baum
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