China auf dem Prüfstand

Marcel Grzanna – „Die Gesellschaft in Unfreiheit“

von Johannes Vesper

Neun Jahre Beobachtung
chinesischer Unfreiheit
 
Bericht aus dem inneren Zirkel
 
Aus internationaler, wirtschaftlicher Kooperation ist inzwischen scharfe Konkurrenz geworden. Der Expansionsdrang in Richtung Honkongs, Taiwans und südchinesischen Meers beunruhigt die Weltöffentlichkeit ebenso wie das Projekt der neuen Seidenstraße. Piräus, der Athener Hafen, wurde von China gekauft und modernisiert. Darüber werden chinesische Interessen wahrgenommen und werden Entscheidungen der EU beeinflußt. Die ist inzwischen zunehmend beunruhigt wegen chinesischer Kaufwünsche bezüglich strategischer Industrien. Die EU-Kommission spricht seit 1919 von „strategischem Rivalen“, arbeitet an einer „strategischen Perspektive“. China will zum 100jährigen Jubiläum der Revolution 2029 in der Welt als einzige Supermacht dastehen. Was aber spielt sich im Inneren dieses Großreiches ab? Wie brutal die KP Chinas mit Kritik umgeht, zeigt das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens am 04.06.1989 mit mehr als 1000 Toten. Über Menschenrechtsverletzungen und Minderheitenunterdrückung wird regelmäßig berichtet. In Hongkong will China aktuell eine eigene STASI etablieren. Aber XI Jinping und die Genossen sind unter Druck. Im Human Development Index (HDI) findet man China auf Platz 85, gleichauf mit Ecuador, hinter Algerien (82) und z.B. der Russischen Föderation (49). Im HDI werden Wohlstand, Bruttonationaleinkommen pro Kopf, Lebenserwartung, Ausbildungsdauer, Alphabetisierungsgrad als Hinweise auf Wohlstand bewertet. Umweltbelastung und Umweltschäden spielen bei der Berechnung keine Rolle. Rechtsstaatlichkeit, Presse- und Meinungsfreiheit, Korruption ebenfalls nicht. Dabei nimmt China Platz 87 auf dem Korruptionswahrnehmungsindex (Transparency International) ein. All das merken nicht alle der 1,3 Milliarden Chinesen.
Touristen und Wirtschaftsdelegationen sind von dem China, welches sie erleben, in aller Regel begeistert. Kultur, Landschaft, die Riesenstädte mit den modernsten Verkehrsmitteln, die Effizienz der Innenpolitik und Verwaltung beeindrucken, aber was wissen wir unabhängig von Fremdenführern und dem wachsenden BIP über China und über das Leben der Chinesen?
 
Marcel Grzanna und Pia Schroers haben als Journalisten und RTL-Korrespondenten 9 Jahre im Reich der Mitte gelebt, recherchiert, Berichte und Beiträge verfaßt und vor allem viel erlebt. Sie widmeten sich immer wieder auch heiklen Themen und erzählen davon. Ihre Beobachtung, daß in der Nachbarschaft Hochhausbewohner nachts aus den Wohnungen geholt, verprügelt und vertrieben wurden, bevor das Haus abgerissen wird, paßt nicht zur Staats- und KP-Propaganda. Grzanna und Schroers hatten nach Absolvierung der Journalistenschule in Köln den Traum, als Korrespondent in China zu arbeiten. Sie konnten RTL davon überzeugen, daß sie dafür die Richtigen seien. Eine gewisse Unbefangenheit half Ihnen bei der Verfolgung dieses Traums, hatten sie doch bei ihrer Ankunft keine präzise Vorstellung, was und wie Korrespondenten im Ausland arbeiten. Würden sie über Reuters, Agence France Press oder Associated Press hinaus interessante Berichte, Filme und Fotos liefern können? Auch der Leser erfährt bei der informativen und unterhaltsamen Lektüre, wie die Berichterstattung der Korrespondenten im Ausland auf China zurückwirkt und wie er von der Berichterstattung, dem Interesse, dem Engagement und Mut der Auslandskorrespondenten abhängig ist. Wenn die beiden z.B. über den Baby-Milchskandal in China schreiben, wie sie mit Betroffenen ins Gespräch gekommen sind und welche Gefahren bei dieser Tätigkeit von der chinesischen STASI ausgeht, kann man die persönlichen Gefahren der Beteiligten durch „Bespitzelung, Verfolgung und Bedrohung“ doch erahnen.
 
Der Leser bekommt eine Idee davon, daß Staatspropaganda immer noch wie Feldmarschall Potemkin im 18. Jahrhundert zwar nicht mit Attrappen von ganzen Dörfern aber mit gezielten Falschmeldungen und sehr ausgeklügelt-propagandistischer Betreuung ausländischer „Gäste“ arbeitet. So heißt es, 400 Millionen Chinesen seien unter der KP der Armut entkommen. Die KP versucht durch Wirtschaftswachstum und Wohlstand die Bevölkerung zufrieden stellen zu können und glaubt damit an einen unausgesprochenen „Burgfrieden“, bzw. daran, daß Jingping und die Staatsmacht, solange die Ökonomie floriert, freie Hand haben. Umweltproblematik, Unterdrückung (z.B. der Uiguren), Zerstörung der Familien durch Wanderarbeiter: solche Themen kommen durch ausländische Journalisten an die Öffentlichkeit und natürlich erfährt man offiziell auch nichts zu den systematischen Übergriffen der Staatsmacht. Obwohl China offiziell die Antifolterkonvention unterschrieben hat, unterhält die internationale Gesellschaft für Menschenrechte eine eigene Webseite zum Thema „Folter in der Volksrepublik“. Ein entsetzliches Thema.
 
In den Demonstrationen Hongkongs seit 2019 zeige sich seit den Regenschirmprotesten 2014, wie autokratische Herrschaftssysteme funktionieren und mit welchen Mitteln sie glauben, sich behaupten zu können. Der chinesische Weg scheint kein Modell für die Welt zu sein. Zuletzt ärgert sich der Autor über die „punktuelle Unvoreingenommenheit“ hier in Deutschland, wenn z.B. die Bauzeit des Berliner Großflughafens unter Hinweis auf die Geschwindigkeit riesiger Bauten und Projekte, wie sie in China schnell und kritiklos entstehen können, verglichen wird und wirbt für eine differenziertere Betrachtung. Die Absicht Chinas, auf Kosten von DAX-Konzernen ein Nachrichtenportal hier in Deutschland zu etablieren, um das eigene Bild günstig zu beeinflussen, blieb bisher erfolglos.
Das Buch bietet für jeden, der sich für dieses faszinierende, riesige, unübersichtliche Land interessiert, eine Fülle von Informationen. Lesenswert!
 
Marcel Grzanna – „Eine Gesellschaft in Unfreiheit“
mit einem Vorwort von Peter Kloeppel,
© 2020 Wilhelm Goldmann-Verlag, 320 Seiten, Taschenbuch, 19 Farbbilder, 39 Anmerkungen und Internetquellen
15,- €
Weitere Informationen: www.randomhouse.de