Müslikuchen

von Erwin Grosche

Foto © Harald Morsch
Müslikuchen
 
Der Tag ist voller Versuchungen. Stets muß man sich für Gut oder Böse entscheiden. Ich wollte diese Unzeit nutzen, um alte Kucheneßgewohnheiten zu hinterfragen. Warum spielte der Kuchen in meinem Leben eine so große Rolle? War es nicht Zeit das zu ändern? Ich wollte versuchen ein besserer Mensch zu werden. Ich holte mir bei Bäcker Hoberg einen Müslikuchen. Der Müslikuchen sieht nicht nur aus wie ein Müslikuchen, er schmeckt auch so. Er warnt mit einer Haferflockenbeschichtung vor allzu großen Erwartungen. Der Müslikuchen ist ein Übergangskuchen. Ein Kuchen, den man wählt, wenn man das Kuchenessen an sich in Frage stellen möchte, aber eigentlich nur schwer begreifen kann, warum man auf das Glück verzichten soll. Ich kaufte mir also am Südring bei Bäcker Hoberg einen Müslikuchen und ließ ihn dann auf der Ladentheke liegen. Das wäre mir mit einer Donauwelle nicht passiert. Meine Trauer hielt sich also in Grenzen. Erst aus einem gewissen Pflichtbewußtsein heraus beschloß ich der Sache nachzugehen. „Wurde hier ein Müslikuchen abgegeben?“ Hinter Hobergs Kuchentheke stand ein Mann. „War das der mit der Haferflockenbeschichtung?“ Ich nickte, schämte mich aber für meine Kuchenwahl. Er griff dann in ein Fach unter dem Brotregal, wo eine Tüte mit Kuchen hinterlegt worden war. Erleichtert nahm ich die Tüte an mich, doch als ich einen Blick hinein warf, sah ich keinen Müslikuchen, sondern zwei Stückchen Käsesahnetorte, die mit Pfirsichen bedeckt worden waren. Ich schluckte. Das war der Feind. Das war genau der Schlendrian, gegen den ich ankämpfen wollte. Die Käsesahnetorte mit Pfirsichen ißt man, wenn man in dunklen Stunden an Gott zweifelt. „Nimm die Käsesahnetorte mit Pfirsich und pfeif auf den Müslikuchen“, hörte ich den Teufel flüstern. Ich schluckte und rang mit mir. „Das ist nicht mein Kuchen“, sagte ich schließlich. „Ich hatte einen ...“ „Ich weiß“, sagte der Mann „Sie hatten einen Müslikuchen mit einer Haferflockenbeschichtung“ und packte ihn mir in eine Tüte. „Danke“, sagte ich. „Danke, daß Sie mir überhaupt geglaubt haben.“ „Kein Thema“, sagte er. Ich merkte aber, daß in diesem Abwinken auch die Gewißheit lag, daß niemand wegen eines Müslikuchens eine Sünde begehen würde. Man tötet für eine Käsesahnetorte, man reißt sich das Herz aus der Brust für einen Frankfurter Kranz, aber für einen Müslikuchen entschuldigt man sich. Zu Hause setzte ich mich erschöpft in meinen Lieblingssessel und schaute auf den Übergangskuchen. Der Weg zur Vollkommenheit ist ein langer und schmerzhafter Weg. Lohnt er überhaupt? Übrigens, um einmal was Gutes über den Müslikuchen zu sagen, er schmeckte auch nach vier Tagen nicht schlechter.
 
 
© 2020 Erwin Grosche