Good morning, America!

Ein Reisefieber

von Rolf Nöckel

Rolf Nöckel - Foto © Frank Becker
Good morning, America!
 
Amerika, morgens um sieben. Busstop in einem Nest im Bundesstaat Georgia. Mein erster Eindruck nach einem verschlafenen Blick: Hier in den Südstaaten steht die Zeit still - und das mindestens seit drei, vier Jahrzehnten. Keine Autos, kein Lärm, keine Hektik. Beim Barbier hocken die Männer zusammen und verhandeln die neuen Nachrichten, bevor sie sich das Rasiermesser an die Kehle setzen lassen.
Aus dem „Hound Dog", einer heruntergekommenen, bunt bemalten Holzhütte, weht Kaffeeduft auf die staubige Landstraße. „Breakfast in America": Die Brühe ist dünn, aber umsonst - vorausgesetzt, man ordert ein deftiges Frühstück mit drei Eiern, Schinken, Zwiebeln, jeder Menge heißem Fett und einem dicken Packen Weißbrotscheiben zum Tunken. Wieder draußen und drei Kilo schwerer, steuere ich auf zwei Männer zu. In blauen Overalls und hoch geschnürten Stiefeln hocken sie auf einer verrotteten Holzbank gegenüber dem Büro des Sheriffs. Keine Miene verziehen sie, doch ihren funkelnden Habichtaugen entgeht nichts. Regungslos verfolgen sie jeden Schritt der Fremden im Dorf.
Freundliche Neugier ist gute Journalistenpflicht. Also schlendere ich, unternehmungslustig und frisch gestärkt, auf die beiden zu und grüße unverbindlich höflich: „Good morning, gentlemen, what a beautiful day today!“ Als Antwort spuckt mir einer der Alten vor die Füße. Dann zieht er lautstark die Nase hoch, greift in seine Hosentasche - und kramt einen Prengel Kautabak hervor. „Extra stark, der Rote. Versuch mal!", raunzt er mir zu. Klar, er will mich testen. Denkt wohl, ich sei irgend so ein Weichei aus Europa. Na warte. Mit leichtem Widerwillen, aber regungslos, nehme ich die Herausforderung an, beiße herzhaft ab und kaue entschlossen durch. So zwei Minuten halte ich durch, dann befreie ich mich von meinem zweiten Frühstück - und spucke zurück. Da schmunzeln die Oldies und nicken mir zu. Der Kerl aus irgendeinem Land hinter dem großen Teich hat das Duell im Morgengrauen gewonnen.
 
 
Mit freundlicher Erlaubnis aus „Reisen ist Glück“ von Rolf Nöckel (1953-2017)
2015 Hayit Medien, Köln