Jahr100Wissen

Vor 100 Jahren wurde die französische Nationalheldin Jeanne d´Arc heiliggesprochen.

von Uwe Blass

Jeanne d´Arc auf dem Scheiterhaufen Jules Eugène Lenepveu, um 1890
Jahr1000Wissen
 
Wir lernen aus der Geschichte nicht, was wir tun sollen.
Aber wir können aus ihr lernen, was wir bedenken müssen.
Das ist unendlich wichtig.
(Richard von Weizsäcker)
 
In der Reihe „Jahr100wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben.
 
Jede Heiligsprechung braucht eine Lobby.
Vor 100 Jahren wurde die französische Nationalheldin
Jeanne d´Arc heiliggesprochen.
 
Die Theologen Prof. Dr. Norbert Brieden und Dr. Wolfgang Grünstäudl über Kanonisierungen und deren Bedeutung für den christlichen Glauben
 
Bekannt unter dem Namen die Jungfrau von Orleans wurde die französische Nationalheldin Jeanne d`Arc (1412 – 1431) am 16. Mai 1920 heiliggesprochen. Wer war diese Frau?
Grünstäudl: Ich glaube, das wichtigste ist, daß wir hier ein junges Mädchen haben, daß auf die Weltbühne tritt und eine Rolle spielt, über die wir heute noch sprechen. Ihre Biographie ist ja fast schon ein klassischer Stoff, der ganz viele Menschen anrührt. Der 100jährige Krieg tobt zwischen Frankreich und England, und dann tritt eine Person auf, die in diesem gesamten politischen Kontext zu einem Katalysator wird.
Brieden: Die Rolle der Kirche ist hier auch sehr spannend, Kirche wird hier politisch instrumentalisiert. Der Bischof von Beauvais z. B.  hielt zu den Engländern, und die hatten ein Interesse daran, daß Jeanne d´Arc als Häretikerin verunglimpft wurde, denn das, was sie getan hatte und wofür sie einstand, nämlich Frankreich von der englischen Besatzung zu befreien, machte den Engländern Angst. König Karl VII. hat zwar dann später, nachdem die Engländer alle das Land verlassen hatten, also 26 Jahre nach ihrem Tod, die Rehabilitation angestrengt. Es wurde jahrelang ein aufwendiges, staatliches Verfahren in Gang gesetzt, es gab ja auch noch Zeitzeugen, und man hat sie dann auch rehabilitiert. Die gesamten Prozeßakten dieser Zeit sind noch vorhanden. Es wäre sehr spannend, wenn jemand kirchenhistorisch in den Archiven in Orleans forschen würde. Da gibt es ein ganzes Jeanne d`Arc-Archiv. Um zu beschreiben, wer diese Frau war, möchte ich eine Antwort von ihr während des Prozesses zitieren, die so auch im Katechismus der Katholischen Kirche steht. Sie wird gefragt, ob sie denn glaube, im Stand der Gnade zu sein…
Grünstäudl: Eine schöne Fangfrage…
Brieden: …genau, denn egal, was sie sagt, es ist verkehrt. Wenn sie sagt, sie ist im Stand der Gnade, ist sie überheblich und wenn sie sagt, sie ist nicht im Stand der Gnade, dann hat sie zugegeben, daß sie Häretikerin ist. Und die Antwort von einem 18 oder 19 Jahre alten Mädchen, das nicht lesen und schreiben konnte lautet:
Wenn ich es nicht bin, möge mich Gott hineinversetzen. Wenn ich es bin, möge Gott mich darin erhalten. Ich wäre der traurigste Mensch auf Erden, wenn ich mich nicht in der Gnade Gottes wüßte. Wenn ich in der Sünde wäre, kämen die Stimmen nicht, denke ich. Möge doch jedermann das in Klarheit erkennen!
Sie hat diese 60 Leute, die sie da befragt haben, fast zur Verzweiflung gebracht, weil sie immer sehr gute Antworten gegeben hat. Es war sehr schwer, sie irgendwo zu packen und letztendlich ist sie aufgrund eines Tricks, wenn man den Quellen glauben kann, auf den Scheiterhaufen gebracht worden. Weil man ihr ihre Frauenkleidung vorenthalten hat und nur Männerkleidung hinlegte wurde dies wieder als Anlaß gesehen, zu sagen, sie sei wieder zurückgefallen. Man hatte sie Schriften unterschreiben lassen, die sie nicht verstand und ihr Angst vor dem Feuer gemacht, bis sie mürbe war. Und dann wurde sie ja auch schließlich verurteilt.
 
Mit 13 Jahren hatte sie laut Gerichtsprotokollen die ersten Visionen. Kritiker behaupten, die Heiligen sind doch eigentlich Verrückte. Sie hören Stimmen, reden mit Tieren oder haben undefinierbare Schmerzen. Warum braucht die Kirche solche Helden?
Grünstäudl: Eine gute Frage. Vielleicht, wenn man sich die heutige Welt anschaut, ja selbst wenn ich mich in meiner privaten Umgebung umschaue, sehe ich sehr viele Menschen, die mit Tieren reden. Ich kenne auch Menschen, die unter undefinierbaren Schmerzen leiden. Und auch das Hören von Stimmen ist nicht in allen Kulturkreisen zwingend ein psychopathologisches Phänomen. Die Normalität des menschlichen Erfahrungsspektrums sollte man nicht allzu schnell und zu eng jenseits einer religiösen Gruppierung oder eines religiösen Diskurses fassen. Und die Vielfalt der Heiligen kann ja auch ein Spiegel für die Vielfalt des Menschlichen sein.
Brieden: Das ist auch das Faszinierende an diesen Heiligen. Das sind so interessante Figuren, die natürlich in ihrem Zusammenhang gesehen werden müssen und die den Menschen damals etwas zu sagen hatten. Symeon, der Säulensteher z.B. (389 – 459 n. Chr., erster christlicher Säulenheiliger. Er lebte als Einsiedler über mehrere Jahrzehnte auf einer Säule, um durch strenge Askese zu ständiger Gemeinschaft mit Gott zu finden. Anm. d. Red.), hat nicht nur da auf der Säule gestanden, sondern die Leute sind dort hin gepilgert, haben seinen Rat erbeten, haben sich mit ihm ausgetauscht. Das ist eben eine ganz andere Möglichkeit des Existierens, die wir heute gar nicht mehr im Blick haben. Diese Heiligen verkörpern das Prinzip, es könnte auch alles anders sein und stehen für eine weitere Perspektive des Menschseins.
Eine Tendenz unserer Zeit ist es, Meinungen, die nicht en vogue sind oder Dinge, die uns nicht in den Kram passen, schnell mit dem Titel des Krankhaften zu versehen. Aber man vergibt sich da auch Erkenntnischancen, seine Erkenntnisse zu erweitern, wenn man zu vorschnell handelt. Stimmen zu hören ist erst mal nichts Gewinnbringendes. Von diesen Stimmen aber, die Jeanne d`Arc gehört hat, der Erzengel Michael und die Heiligen Katharina und Margarete, zwei Märtyrerinnen, die auch relativ früh gestorben sind, fühlte sie sich beraten.
Grünstäudl: Kirchendidaktisch ist das auch eine spannende Diskussion. Gerade in der Schularbeit, wo auch Heilige eine Rolle spielen, immer wieder den Fokus auf die Einzelperson zu nutzen, weil es viel spannender ist über Jeanne d`Arc zu sprechen, als über den 100jährigen Krieg. Heilige stellen ja auch immer die Frage: Was zählt jetzt wirklich im Leben? Und in Krisenzeiten, mit denen wir uns gerade beschäftigen, geht es ja auch immer darum: Worauf kann ich verzichten? Worauf kann ich nicht verzichten, oder wofür, wenn ich es ganz hochhängen darf, bin ich denn bereit zu sterben?
 
Heiligsprechungen haben immer auch politische Hintergründe. So wurde Hildegard von Bingen (1098 – 1179) erst 1584 in den Kanon der Heiligen aufgenommen. Was war der Grund dafür?
Grünstäudl: Was uns der Fall zeigt, ist, daß jede Heiligsprechung eine Lobby braucht. Es braucht einen Bedarf, daß jemand Heiliger wird, es braucht Leute, die sich dafür einsetzen.
Brieden: Wichtig ist sicher auch, warum es diesen römischen Zentralismus bei der römisch-katholischen Kirche gibt. Rom beansprucht das alleinige Recht zu bestimmen, wer selig- oder heiliggesprochen wird. Das hängt sicher auch mit der Sorge zusammen, daß schnell aus einem regionalen Bewußtsein heraus, ohne umfangreiche Prüfung, jemand in den Kanon aufgenommen werden könnte.
 
Wer kein Märtyrer ist, muß mit Wundern dienen. Im Falle Papst Johannes Paul II. waren dies Heilungen zweier Frauen, die die Kirche anerkannte und zur Selig- und -unter Aussetzung der eigentlichen Fünfjahresfrist- zur schnelleren Heiligsprechung führten. Wollte man damit einen Jahrhundertpapst hervorheben?
Grünstäudl: Jahrhundertpapst trifft es ja auf jeden Fall. Unabhängig davon, ob man die konkrete Politik oder die konkreten Handlungen in seinem Pontifikat für gut hält, sind besonders die Santo-Subito-Rufe (sofort heilig) bei seiner Beerdigung spannend. Also das jemand für Gläubige offensichtlich ein Heiliger ist. Und das braucht für die Menschen, die Santo-Subito rufen, kein Verfahren. Das ist eine andere Dimension. Da wird jemand als Vorbild gesehen, den man als Heiligen verehren möchte.
Brieden: Bei Mutter Theresa war es ja so, daß 2002 auch schon eine Wunderheilung diagnostiziert wurde. Dann wurde aber dieser Fall noch einmal geprüft und festgestellt, daß die Frau gar nicht sterbenskrank war. Deshalb hat das bei Mutter Theresa auch so lange gedauert. Sie ist dann 2016 heiliggesprochen worden, nachdem eine andere Heilung anerkannt wurde.
Grünstäudl: Was ich an diesen Wundereffekten besonders interessant finde, daß man sich hier einer anderen Logik bedient. Man fragt nach naturwissenschaftlichen Gründen. Wenn man sich verliebt, kann man das auch sehr genau biochemisch erklären. Das nimmt aber dem Erlebnis, sich zu verlieben, überhaupt nicht den Zauber. Es sind ganz verschiedene Perspektiven.
Brieden: Es ist einfach der Versuch, Objektivität zu konstruieren und eine Art Sicherheit zu inaugurieren, daß wir diese Person mit Fug und Recht als heilig anerkennen. Theologisch steckt noch viel mehr dahinter, nämlich, daß jede Person zur Gemeinschaft der Heiligen gehört. Wir glauben ja an die Gemeinschaft der Heiligen und sagen das auch im Glaubensbekenntnis. Es sind nicht nur die heiliggesprochenen Menschen gemeint, sondern eigentlich alle Glaubenden, die in der Perspektive leben, wie Jesus gesagt hat: Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist. Also sind wir als Gemeinschaft der Heiligen alle heiliggesprochen von Gott. Und was in diesem Akt der Heiligsprechung zum Ausdruck kommt, ist, daß jeder Mensch zur Heiligkeit berufen ist und von Gott her auch zu dieser Gemeinschaft gehört.
 
Jeanne d`Arc wurde erst 1920 heiliggesprochen. Warum hat man bei ihr solange gewartet?
Grünstäudl: Wir können wieder zur Lobby zurückkehren. Es gab relativ zeitnah ein Rehabilitationsverfahren und auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es ein aufwendiges Verfahren. Wir bewegen uns kurz nach dem Ersten Weltkrieg, Frankreich gilt als siegreicher Verlierer dieses schrecklichen Ereignisses und es besteht eine besondere Motivation, diese Nationalheldin wieder hervorzuheben.
Brieden: Der Seligsprechungsprozess wurde 1869 bereits wieder von einem Bischof in Orleans eingeleitet. Dann hat es wieder 40 Jahre gedauert, bis man die Akten gesichtet hatte, um sie dann 1909 selig zu sprechen.
 
Sind Heiligsprechungen eigentlich heute noch zeitgemäß?
Brieden: Was zeitgemäß ist und auch bleibt, ist meines Erachtens, daß wir als Menschen Menschen brauchen, die mit ihren Lebensbildern etwas aufzeigen von dem, für das es sich zu leben lohnt. Man hat Persönlichkeiten, die für eine Sache brennen. Sprichwörtlich ist Jeanne dafür verbrannt worden, weil sie für die Einheit der Nation eingetreten ist, für eine Befreiung von der Besatzung und zwar aus einem geistlichen Impuls heraus, nämlich durch die Stimmen, die sie gehört hat. In Bezug auf die Aktualität ist auch die Urteilsbegründung sehr spannend. Ich zitiere:
 „Wann immer der Irrglaube mit seinem verpestenden Gift ein Glied der Kirche ansteckt und in ein Glied des Satans verwandelt, so muß man mit brennendem Eifer verhindern, daß die gefährliche Ansteckung auch auf andere Teile des mystischen Leibes übergreife. So erkennen wir Euch Jeanne d`Arc der Exkommunikation verfallen, der Ketzerei und der Teufelsanbetung für schuldig.“
Dieses Bild der Ansteckung, das gerade in der aktuellen Coronapandemie eine ganz andere Bedeutung hat, wird hier genutzt, um einen Mord zu legitimieren, um einen Virus, den Virus des Unglaubens, zu verhindern. Ich habe in der aktuellen Ausgabe von „Christ in der Gegenwart“ vom 26. April einen Bericht mit dem Titel „Das gefährlichste Virus“ gefunden. Darin heißt es: „Am gefährlichsten ist in unserer Zeit das Virus einer säkularen Entchristlichung. Das sagte der ökumenische Patriarch Bartholomäus I. von Konstantinopel bei den orthodoxen Auferstehungsfeierlichkeiten.“
Das Bild der Ansteckung mit einem Virus ist aktuell. Und da kann man auch heute kirchendidaktisch aus diesem Prozeß der Jeanne d`Arc lernen. Es geht in der Heiligendidaktik nicht darum, jemanden als unerreichbares Idol irgendwo aufzustellen, sondern zu zeigen, es gibt bestimmte Punkte, die für mich heute relevant sind. Es sind keine seltsamen Typen, die unerreichbar sind, es sind Menschen wie du und ich.
Grünstäudl: Ich denke, daß sich auf Heiligsprechungen nicht verzichten läßt, weil der Mensch, auch der religiöse Mensch, nach Vorbildern sucht. Das ist auch die Aufgabe von Theologie, das zu reflektieren, einzuordnen und kritisch zu begleiten.
Brieden: Es erweitert unseren Blickwinkel. Menschen, die in ihrem Leben zeigen, es könnte doch auch anders gehen. Und diese Heiligsprechungen, diese Kanonisierungen, sprechen es noch einmal für alle deutlich aus. In der Vielfalt der Heiligen zeigt sich, daß es nicht den einen für alle gültigen christlichen Lebensweg gibt.
Grünstäudl: Die österreichische Pop-Rock-Band STS bringt es mit einer Ballade an den Großvater, einem Menschen wie du und ich, exakt auf den Punkt: „Du worst ka Übermensch, host a nie so tan, /G'rod desweg'n wor da irgendwie a Kroft/Und durch die Ort, wie du dei Leb'n g'lebt host, /Hob i a Ahnung 'kriagt, wia ma's vielleicht schofft“.
 
 
Prof. Dr. Norbert Brieden lehrt Religionspädagogik/Katechetik und Didaktik des Katholischen Religionsunterrichts an der Bergischen Universität.
Dr. Wolfgang Grünstäudl lehrt biblische und historische Theologie an der Bergischen Universität.