Gesichtsfassungen

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Frank Becker
Gesichtsfassungen
 
Wir sollen uns nicht mehr ins Gesicht fassen“, las ich heute in der Zeitung und befeuchtete schon meinen Zeigefinger, um die nächste Seite aufschlagen zu können. Das wird nicht einfach, dachte ich, zumal das Lecken des Zeigefingers auch schon unter die Gesichtsverbote fiel. Das Gesicht wird zur unberührbaren Zone erklärt, zur No-Go-Area. Gleich juckt meine Nase und ich kann sie nur von ihrer Pein erlösen, indem ich den Kratzbaum meiner Katze mitbenutze. Wie sollen wir es nur aushalten uns nicht mehr im Gesicht zu berühren? Gerade wenn man schön ist, reibt man sich doch jeden Tag die Augen, um sicher zu sein, daß man nicht träumt. Man soll ja nicht nur das eigene Gesicht meiden, sondern auch dem Gesicht des Nachbarn fern bleiben. Und wer reibt dann meinem kleinen Schatz den Schlaf aus den Augen? Wer streichelt  ihre Wangen? Darf man dann auch nicht mehr spielen. „Klopf, klopf, klopfet an. Guten Tag, Herr Nasenmann“, und dabei zieht man dem anderen ans Ohrläppchen und rüttelt die Nase hin und her, als wäre sie eingeschlafen und hätte das Klopfen nicht gehört? Das wird keine einfache Zeit werden. Ich habe eine blinde Freundin, die legt mir manchmal ihre Hände aufs Gesicht, damit sie sicher ist, daß ich nicht weine. Ich kann hier nichts versprechen, kann sein, daß ich jetzt auch mal weine, weil ich nicht weiß, wie ich meine Tränen wegwischen soll. „Weg mit den Patschefingern!“ Darf ich mir nach dem Chipsessen nicht mehr die Finger ablecken? Hält mir nun Lydia nicht mehr den Mund zu, wenn ich wieder zu viel Quatsch erzähle und auch dann damit nicht aufhöre, als wäre Oliver Pocher in mich gefahren?  Zum Glück kann sich die Zunge um die Lippen kümmern. Ein Leck, und alles ist weg. Was ist mit dem Gähnen? Kann ich meiner Umgebung noch den Anblick meines Gähnens ersparen, indem ich schützend die Hand darüber lege? Man soll nun die Finger aus dem Gesicht lassen. Das haben sie nun davon, daß sie alles anfassen und abtasten müssen. Kann man sich eigentlich mit dem großen Zeh in der Nase bohren? „Ich faß mir nicht mehr ins Gesicht, ich streichle meinen Bauch. Das ist des kranken Bürgers Pflicht, kein Feuer ohne Rauch. Entschuldige, mein Augenpaar, entschuldige mein Mund. Ich finde euch doch wunderbar, und geb dies allen kund. Ich hoffe auf ne andre Zeit, in der wir sind vereint, die Finger stehen schon bereit, und sind nicht mehr der Feind.     
 
 
© Erwin Grosche 2020