Lang Lang in der Historischen Stadthalle Wuppertal

Wahrlich ein Grund zur Gemüthsergetzung

von Johannes Vesper

Foto © Peter Wieler

Lang Lang mit Johann Sebastian Bach
Aria (Thema) mit 30 Veränderungen BWV 988 „Goldberg-Variationen“
in der Historischen Stadthalle Wuppertal
  
Von Johannes Vesper
 
Geboren 1982 in Shenyang China), gewann er mit elf Jahren seinen ersten internationalen Preis beim renommierten vierten „Internationalen Wettbewerb für Junge Pianisten“ in Ettlingen. Begonnen hatte er mit 3 Jahren am Konservatorium in Shenyang, studierte am Curtis Institut in Philadelphia und wurde international bekannt, als er 1999 beim Chicago Symphony Orchestra unter Christoph Eschenbach bei Tschaikowskis 1. Klavierkonzert einsprang. In Deutschland nahm man ihn zur Kenntnis, als er 2006 bei „Wetten daß“ seine Wette verlor und bei einem Konzert zur Eröffnung der Fußballweltmeisterschaft mit den drei Münchenern Orchestern auftrat, zur Eröffnung der Fußball EM 2008 auf der Bregenzer Seebühne spielte und 2015 mit den Berliner Philharmonikern und Simon Rattle beim Waldbühnenkonzert als UN-Botschafter des Friedens auftrat. 60.000 € spendete er danach an UNICEF. Natürlich erhielt er mehrfach den ECHO Preis. Jetzt bot er also in der Historischen Stadthalle Wuppertal die Goldberg-Variationen, für die Johann Sebastian Bach 100 Louis d´Or als Honorar erhalten hat, soviel wie für kein anderes von ihm komponierte Stück. Die Kaufkraft dieses Honorars in der Mitte des 18. Jahrhunderts ist schwer abzuschätzen, könnte aber 24.000 € entsprechen. Donnerwetter. Die Eintrittspreise am heutigen Abend (bis zu 150 €) werden dem irgendwie entsprechen.
 
     Zur Eröffnung des Abends begrüßte Prof. Ohnesorg als Intendant des Klavierfestivals die Gäste, freute sich, daß Lang Lang nach einer Pause wieder beim Klavierfestival auftrat (zum 14. Mal seit 2003) und daß die Zuhörer so zahlreich da waren und war glücklich, daß die Veranstaltung wegen der CORVID-19 Epidemie nicht abgesagt worden ist, was man natürlich ohne weiteres hätte rechtfertigen können. Ohnesorg versprach den Zuhörern nach J.S. Bachs Klaviermusik zunehmende Widerstandskraft und Resilienz gegen Corona. Tapfer! Das Publikum fürchtete nichts, glaubte ihm alles und applaudierte kräftig.
Die Arabeske op. 18 von Robert Schumann begann der Pianist unspektakulär, beiläufig, obenhin und spielte dieses romantische Rondo vorab mit ausgeprägter Agogik, ließ die Themen in Diskant und Baß singen und dehnte die rätselhaften Zwischenspiele befremdlich, fast bis zur Entstellung, vor erneutem Einsatz des Rondothemas bzw. vor Schluß. Lange hielt er den Schlußton im Pianissimo an, induzierte so eine sekundenlange Pause vor dem dann starken Applaus.
 

Foto © Peter Wieler

     Die Goldberg-Variationen wurden 1741 (0der 1742?) unter dem Titel Clavierübungen Nr. IV publiziert, laut Titelblatt „denen Liebhabern zur Gemüthsergetzung verfertigt“ und merkwürdigerweise nicht dem Auftraggeber gewidmet. Es handelt sich bei dieser Aria mit 30 Variationen BWV 988 um eines der anspruchsvollsten Klavierwerke überhaupt und um ein Schlüsselwerk des 18. Jahrhunderts. Dabei beginnt die Aria, also das Thema scheinbar einfach. Ursprünglich war das Werk für ein zweimanualiges Cembalo gedacht. Nur ein höchst versierter, technisch souveräner und geistig beweglicher Pianist kann im Verlauf der zunehmend komplexeren und komplizierteren Variationen auf modernem Flügel die verschiedenen Stimmen hörbar führen, differenzieren und erklingen lassen. Der Liebhaber-Pianist wird spielerisch damit überfordert sein. Insgesamt finden sich keine schlüssigen Angaben des Komponisten zu Spielweise, Tempo, Dynamik oder Phrasierung. Jeder Pianist ist da auf sich gestellt und erweitert mit seiner Subjektivität die notierte Struktur. Die Variationen wurden im Auftrag des Grafen Keyserlingk für den hochbegabten Cembalisten Goldberg komponiert, der damit den melancholischen Grafen in schlaflosen Nächten ein wenig aufheitern sollte. Die Variationen entfalten sich im Dreier-Takt einer Chaconne über einem Ostinato-Baß, der in sich variiert wird und ein harmonisches Gerüst für die einzelnen Variationen bietet. In der Konstruktion der gesamten Komposition erklingt jeweils die 3. Variation als Kanon, wobei diese Kanonen in aufsteigenden Intervallen von der Sekunde bis zur None ausgeführt werden. Drei der Variationen stehen in Moll. Die 10 Gruppen von je 3 Variationen beginnen jeweils mit einer meist virtuosen Ouvertüre oder Toccata, gefolgt von einer ruhig-melancholischem nachdenklich besinnlichen Variation und enden mit dem Kanon. Das ganze Werk entfaltet einfach, heiter, lyrisch, gesanglich, fugiert kompliziert, tänzerisch, virtuos-komplex, in Umkehrung der Themen die ganze Welt Johann Sebastians.
Die letzte der 30 Variationen ist ein Quodlibet, ein Scherzo, ein musikalischer Spaß, in dem voneinander unabhängige Melodien zusammenkomponiert und oft auch noch im Kanon gegeneinander oder miteinander gesungen werden. „Kraut und Rüben haben mich vertrieben, hätt meine Mutter Fleisch gekocht, wäre ich länger geblieben“. Und „Ich bin so lang nicht bei Dir geweset Ruck her, ruck her“. In der Bachschen Familientradition gehörten solche frei improvisierten Quodlibets bei Familienfeiern dazu. Zu seiner eigenen Hochzeit mit Maria Barbara komponierte Johann Sebastian ein Hochzeitsquodlibet, in dem „Kraut und Rüben“ auch schon vorkam.
     Der hochkomplexe Aufbau dieser freien Phantasie- und Gedankenflüge Bachs kann im Rahmen einer Rezension nicht umfassend abgehandelt werden. Jedenfalls hörten wir bei den langsamen Variationen in die Tiefe der Seele des Komponisten wie des Pianisten, der mit der Stirn auf dem Vorderdeckel des Konzertflügels den differenzierten Pianissimo-Klängen hinter der Tastatur nachspürte, wenn er nicht bei den hochvirtuosen Stücken seine Hände hoch fliegen ließ, sie in affenartigem Tempo übergriffig in der wahren Bedeutung dieses Wortes über die ganze Tastatur schleuderte, abriß, dazu in großer Pose sich zurücklehnte und immer wieder Inspiration und Kraft an der hohen Decke des großen Saals suchte. Großartig, wie am Ende nach „Kraut und Rüben“, der riesige musikalische Kosmos wieder in die einfache Aria des Beginns verpackt wird und zum Schluß verschwindet, als wäre nichts gewesen. Sensationell!
 

Foto © Peter Wieler

     Das wirklich „ergetzte“ Publikum konnte zwar einmal unpassenden Zwischenapplaus nicht unterdrücken, hustete im übrigen aber sehr selten und folgte gebannt wie konzentriert dem höchst subjektiven und erregenden Spiel Lang Langs. Für den tosenden Schlussapplaus (Bravi, bravissimi und Blumen!) bedankte sich Lang Lang mit tiefen Verbeugungen, gratulierte dem Intendanten mit einem der erhaltenen Blumensträuße zu seinem Geburtstag (siehe auch: https://www.musenblaetter.de/artikel.php?aid=21973&suche=Ohnesorg), der vor 2 Jahren schon einmal an gleicher Stelle gefeiert wurde und gab Mendelssohns „Lied ohne Worte op. 67/4“ als Zugabe. Schön war´s. Und, zurückkommend auf die Worte des Intendanten, Klaviermusik gegen Corona? Schön wär´s!
 
Wir danken Peter Wieler für die Fotos.