„Reich mir die Hand, mein Leben“

Vom Umgang mit fremdsprachigen Opernlibretti

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Reich mir die Hand, mein Leben“
 
Vom Umgang mit fremdsprachigen Opernlibretti
 
Von Heinz Rölleke
 
Meine erste italienische Reise machte ich als Student im zweiten Semester. Meine rudimentären italienischen Sprachkenntnisse hatte ich fast ausschließlich beim Anhören italienischer Opern gewonnen, indem ich ab und zu ein italienisch-deutsches Wörterbuch oder eine der zahlreichen Übersetzungen aus dem 19. Jahrhundert zur Hand nahm, nach denen die Opern hierzulande bis in die Fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts fast ausschließlich wiedergegeben wurden. Mit diesem bescheidenen Wortschatz ausgerüstet, machte ich im Land des Belcanto schon bald seltsame Erfahrungen. Als ich einmal in einer Trattoria einen Schwertfisch ordern wollte, stieß ich beim Kellner erst auf Unverständnis, dann auf herzliches Gelächter. Ich kannte aus vielen Opern das italienische Wort „brando“ für Schwert (in Verdis „Die Macht des Schicksals“ fordert Alvaro für einen bevorstehenden Zweikampf mehrfach „un brando!“), auch hatte ich im Proseminar gelernt, daß „Schwert“ im Althochdeutschen „brand“ hieß; dementsprechend bestellte ich „pesce brando“. Nach einigen Diskussionen und Pantomimen wurde ich belehrt, das Fischgericht heiße „pesce spada“: Nicht nur die deutsche, sondern auch die italienische Sprache hatte sich in den vorausgehenden hundert Jahren geändert. Die moderne Bezeichnung für einen Degen oder ein schlankes Schwert ist also „spada“ - eine Benennung, deren ich mich eigentlich aus einer Szene des „Rosenkavalier“ von Strauss/Hofmannsthal hätte erinnern können, in welcher der vom Degen Octavians verletzte Baron flucht: „Sakramentsverfluchter Bub', nit trucken hinterm Ohr und fuchtelt mit 'n Spadi!“ In Gesprächen mit italienischen Bekannten kam es zu ähnlichen Mißverständnissen. Das „Vesti la giubba“ aus dem „Bajazzo“ Leoncavallos lautet in der traditionellen deutschen Übersetzung „Hüll' dich in Tand“, also stetze ich „giubba“ für eine abgetragene Jacke; in Italien ist die „giubba“ allerdings ein Frack. Oftmals habe ich das Wort „braccia“ völlig falsch für „Brust“ gesetzt, irritiert durch die gar zu freie Übersetzung eines Verses der berühmte Arie des Cavaradossi aus Puccinis „Tosca“ „mi cadea fra le braccia“ (sie sank mir zwischen die Arme, sie sank in meine Umarmung): „sie sank an die Brust mir“. Schließlich zogen die Italiener aus meinem merkwürdigen Vokabelgebrauch den richtigen Schluß, indem sie ihn als „Plüschitalienisch“ klassifizierten (eine schöne Wortbildung, die zugleich an Interieurs des 19. Jahrhunderts wie an traditionelle Opernausstattungen erinnert).
Nach diesen und manchen entsprechenden Erfahrungen mochte ich ohne weiteres keiner traditionellen Übersetzung fremdsprachiger Opernlibretti ins Deutsche mehr recht trauen.
 
Und dieses Mißtrauen ist gerechtfertigt, wenn man nur einige der im Deutschen geradezu sprichwörtlich gewordenen Floskeln mit den italienischen oder französischen Originalen und deren Intention vergleicht.
 
„Holdes Mädchen, sieh mein Leiden / Kannst du so daran dich weiden“, schmachtet der lüsterne Herzog in Verdis „Rigoletto“ das Freudenmädchen mit dem bezeichnenden Namen Maddalena an. Im Italienischen nennt er das Kind beim Namen:
 
            „Bella figlia dell'amore
            Schiavo son dei vezzi tuoi“
            („Schöne Tochter der Liebe, ich bin Sklave deiner Reize“).
 
Auch die vorausgehende berühmte Cavatine „La donna e mobile“ klingt im Deutschen ein bißchen harmlos:
 
            „O wie so trügerisch
            Sind Weiberherzen.
            Mögen sie klagen,
            Mögen sie scherzen.“
 
Der herzogliche Schürzenjäger sieht es etwas genauer:
 
            „La donna è mobile
            Qual piuma al vento
            […]
            Pur mai non sentesi
            Felice appieno.“
            („Die Frauen sind flatterhaft wie Federn im Wind […] und doch fühlen sie sich nie vollständig glücklich“).
 
„Nur der Schönheit weiht' ich mein Leben“ singt Puccinis „Tosca“ auf deutsch in aller Harmlosigkeit. Tatsächlich sagt es sich die nicht eben prüde Operndiva selbst sehr deutlich: „Vissi d'arte / Vissi d'amore“ („Ich lebte von der Kunst, / Ich lebte von der Liebe“).
 
„Hat dein heimatliches Land keinen Reiz für deinen Sinn?“, fragt der biedermeierliche Vater seinen mit der Kurtisane Violetta alias La Traviata zusammenlebenden Sohn. „Di Provenza il mar, il suol chi dal cor ti cancellò?“, heißt es in Verdis Original. Die englische Übersetzung verfährt weniger sentimental: „Who Provence's soil and sea cancelled from your memory?“ („Wer löschte Land und Meer der Provence aus deinem Gedächtnis?“). „Chi“, „Who“, „Wer“ hat dich verführt, die Erinnerung an die Tage in deinem Vaterland auszulöschen, zu vergessen? Damit ist natürlich indirekt auf die Kurtisane „Traviata“ gezielt. Die sprichwörtlich gewordene deutsche Übersetzung imaginiert statt der väterlichen Aggression seinen Appell an nostalgische Heimwehgefühle. Auch in Verdis „Il Trovatore“ spielen die Übersetzer die Vision der alten Zingara Azucena ins traulich Heimatliche: „In uns're Heimat kehren wir wieder“; weniger sentimental klingt „Ai nostri monti ritorneremo“ („In unsre Berge kehren wir zurück“, im Englischen „returning to our green mountains“). Das Fahrende Volk hat bekanntlich keine feste Heimat – hier liegt sie irgendwo im wilden Gebirge.
 
Überhaupt die Heimat! Charles Gounod hat ins Libretto seiner berühmten „Faust“-Oper nachträglich ein Gebet des ins Feld ziehenden Valentin eingefügt, in dem Gretchens Bruder Gott, den „Roi des cieux“, um den Schutz für die Schwester bittet: „Avant de quitter ces lieux, / Sol natal de mes aïeux“ („Bevor ich diesen Ort verlasse, den Geburtsort meiner Vorfahren“). Die deutsche Übersetzung weicht diese eher nüchtern klingenden Eingangsverse wieder sentimental auf: „Da ich nun verlassen soll, mein geliebtes Heimatland.“ Thomas Mann läßt seinen Hans Castorp im „Zauberberg“ diese deutschsprachige Fassung hören, die er dem Leser mit sanfter Ironie ins Gedächtnis ruft. Durch die Wiedergabe im Konjunktiv gerät die Paraphrase des im Französischen hoch pathetischen Gebets unweigerlich ins leicht Komische:
 
                        „Da ich nun verlassen soll
                        mein geliebtes Heimatland' -
            und er wandte unter diesen Umständen sein Flehen zum Herrn des Himmels, daß er ihm unterdessen das holde Schwesterblut schützen möge! […] er wollte sich dort, wo die Schlacht am heißesten, die Gefahr am größten war, keck, fromm und französisch dem Feinde entgegenwerfen.“
 
Im deutschen Sprachraum gehört die frivole Aufforderung des Mozart'schen Don Giovanni, das Bauernmädchen Zerlina möge ihren Verlobten verlassen und mit ihm auf sein Schloß kommen, wohl zu den bestbekannten Opernzitaten überhaupt:
 
                        „Reich mir die Hand, mein Leben,
                        Komm auf mein Schloß mit mir.“
 
Damit wird das Italienische dem Wortlaut nach einigermaßen richtig, dem Sinn nach aber wohl weniger treffend wiedergegeben:
 
                        „Là ci darem la mano
                        Là mi dirai di sí.“
 
Die deutsche Version wurde und wird meist als schmeichelnde Aufforderung zu einem eher harmlosen kleinen Flirt oder auch zu einem gravierenden Seitensprung aufgefaßt, der die Treue Zerlinas zu ihrem Masetto vorübergehend ins Schwanken bringt („soll ich oder soll ich nicht“, „ich möchte und möchte nicht“). Tatsächlich aber geht aus dem Kontext hervor, daß der adelige Verführer das Bauernmädchen allen Ernstes mit einem dieser Aufforderung vorausgehenden lügenhaften Eheversprechen zu locken sucht:
 
                        „DON GIOVANNI
                        Orsù non perdiamo tempo in quest'istante
                        io vi voglio sposar.
                        ZERLINA
                        Voi?               
                        DON GIOVANNI
                        Certo io. Quel casinetto è mio;
                        soli saremo:
                        e là, giojello mio, ci sposeremo.
                        Là ci darem la mano,
                        Là mi dirai di sí.“
 
Die neuere deutsche Prosaübertragung Rudolph Angermüllers trifft den Sinn wohl genau:
 
                        „Auf, verlieren wir keine Zeit: auf der Stelle
                        will ich dich heiraten.“
                        „Ihr?“
                        „Natürlich ich.
                        Das Schlößchen dort gehört mir:
                        Wir werden allein sein,
                        und da, mein Schatz, heiraten wir.
                        Dort reichen wir uns die Hand.
                        Dort gibst du mir dein Ja.“
 
Das leere Versprechen des notorisch bindungsscheuen Don Giovanni müßte man also in einer rhythmischen Übersetzung in die Wendung fassen: „Reich' mir die Hand fürs Leben.“
 
Als ein Beispiel für die fast ständige Verharmlosung von in der Urfassung zuweilen zynisch gebrauchten Bildern möge ein im Deutschen ebenfalls populär gewordener Liedeingang aus Mozarts „Figaros Hochzeit“ dienen:
 
            „Will der Herr Graf ein Tänzchen nun wagen,
            Mag er mir's sagen, ich spiel ihm auf.“
 
Das klingt fast wie eine Rokokofloskel, ist aber im italienischen Text im Mund des höchst erzürnten Figaro aufsässig und bösartig gemeint:
 
            „Se vuol ballare signor Contino,
            il chittarino le suonerò.
            Se vuol venire nella mia scuola
            […]
            Dissimulando scoprir potrò
            L'arte schermendo, l'arte adoprendo.“
 
In Angermüllers Übersetzung:
 
            „Will er tanzen, der Herr Gräflein,
            mit der Gitarre spiel ich ihm auf.
            Will er lernen in meiner Schule
            […]
            Finten wend ich an,
            hier stech ich zu,
            dort sag ich's im Scherz.
            Alle Machenschaften
            bring ich zu Fall.“
 
Das revolutionäre Potential, das in Mozarts „Figaro“ durchgängig zu spüren ist, kommt auch in dieser bissigen Kavatine des gräflichen Dieners deutlich zum Vorschein.
 
Insgesamt ist nicht zu übersehen, daß die traditionellen deutschen Übersetzungen die erotischen oder sozialkritischen Elemente ihrer romanischsprachigen Vorlagen in der Regel mildern oder tilgen. Die Regisseure und das Publikum im deutschen Reich wollten offenbar durchweg eine weichgespülte Fassung dieser Kunstform. Daß allerdings im Genre Oper das an sich schon schwierige Übersetzen durchgängig als Verrat zu werten wäre (gemäß dem italienischen Sprichwort „Traduttore – Traditore), geht aber denn doch wohl zu weit. Indes ist durch die seit einigen Jahrzehnten gängige Praxis, die Opern allenthalben in ihrer Originalsprache zu bieten, dem Mißverstehen inzwischen Einhalt geboten worden. Losgelöst aus ihrem Kontext, sollte man aber den berühmt gebliebenen alten - poetisch offenbar gelungenen - Umsetzungen im deutschen Sprach- und Zitatgebrauch gern ihr Lebensrecht gestatten.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020