60 Jahre Sowjet-Design

Kristina Krasnyanskaya und Alexander Semenov – „Soviet Design - From Constructivism to Modernism. 1920-1980“

von Robert Sernatini

60 Jahre Sowjet-Design
 
Kunst und Kitsch, Moderne und Monumentales
im real existierenden Sozialismus
 
Es ist ein grundlegendes, gewaltiges Werk, das Kristina Krasnyanskaya und Alexander Semenov mit nahezu 400 ausführlich kommentierten Sach-Illustrationen und 29 Biographien zu einer der wichtigsten abgeschlossenen Epochen des Designs im 20. Jahrhundert hier vorlegen. Denn quasi hinter verschlossenen Türen oder um es plakativer zu beschreiben, hinter einem geschlossenen eisernen Vorhang entwickelten sich im Sowjet-Reich über sechs Jahrzehnte Design-Strömungen, die ebenso wie im zum Glück nur kurzlebigen Dritten Reich Deutschlands steter politischer Einflußnahme und harscher Zensur ausgesetzt waren. Die Namen der beteiligten Künstler, Architekten, Designer und Entwickler drangen bis auf wenige Ausnahmen kaum aus der streng abgeriegelten Sowjetunion hinaus, wurden allenfalls einem begrenzten Zirkel von Fachleuten bekannt.
Abgekoppelt von der stilistischen Entwicklung Europas und Amerikas, mit denen die sowjetischen Künste allerdings die Wurzeln teilten, schöpfte die große Kulturnation Russland für Architektur und Innenarchitektur, Design, Graphik, Kunst und Gebrauchskunst aus den Strömungen von Konstruktivismus, Art Deco, Anantgarde und Bauhaus, die im sozialistischen Sinn bis zum Modernismus weiterentwickelt oder umgeschrieben wurden. Dieses weite Feld war bislang nur marginal erforscht. Kristina Krasnyanskaya und Alexander Semenov haben diesen „weißen Fleck“ auf der Landkarte der Design-Geschichte mit ihrem Buch weitgehend getilgt.
 
 
 Kaffekanne, Nikolai Suetin, Staatliche Porzellan-Manufaktur 1923

Analog dem Nationalsozialismus pflegten die Machthaber der UdSSR von Anfang an  Großmacht-Träume, die in gewaltigen und durchaus scheußlichen Architekturen Ausdruck fanden, denkt man nur an staatliche Repräsentationsbauten wie den Entwurf Boris Iofans für den Palast der Sowiets 1933, die Entwürfe zu den Weltausstellungen in Paris 1937 (Boris u. Dmitry Iofan / Arkady Baransky u.a.), in New York 1937 (Boris u. Dmitry Iofan / Mikhail Adrianov u.a.), Das Theater der Roten Armee (1940, Karo Halabyan / Vasily Simbirtsev), die Entwürfe für das Aeroflot-Gebäude 1934 durch Dmitry Chechulin oder die von Boris Iofan (1891-1976), dem Albert Speer der Sowjetunion in den 50ern, den letzten Lebensjahren Josef Stalins realisierten „Sieben Schwestern“. Diese im Auftrag Stalins errichteten Repräsentationsbauten im Sozialistischen Klassizismus, auch stalinistischer Zuckerbäckerstil genannt, das Haus des Außenministeriums, die Hotels Leningradskaja und Ukraina, die Lomonossov-Universität, die Wohnhäuser am Kudrinskaja-Platz und an der Kotelnitscheskaja-Uferstraße und das Haus am Roten Tor zeigen den eher geschmacklosen Monumentalismus der Sowjet-Diktatur. Welcher Deutsche hätte das nämliche nicht angesichts der Stalinallee im Berlin des Wiederaufbaus im Ostteil der Stadt vor Augen.
 

 Mikhail Posokhin, Pavillon der UdSSR für die Weltausstellung in Osaka 1970

Geschmackvoller, wenn auch nicht weniger monumental und auf Pracht angelegt wirken dann schon die einzigartigen Metro-Stationen Moskaus, die tief unter der Erde angelegt gleichermaßen als ein Aushängeschild für die Schönheit des Sozialismus wie als Schutzräume im Bombenkrieg gedacht waren. In den 30er und 40er Jahren von u.a. Ivan Fomin / Alexei Dushkin / Leonid Polyakov / Leonid Fishbein / Nadezhda Bykova / Ivan Taranov / Dmitry Chechulin / Yuri Revkovsky u.v.a.m. entworfen und ausgeführt sind sie bis heute Vorzeigeobjekte.


Moskau, Metro-Station Izmailovskaya 1943 von Leonid Fishbein u. Boris Vilensky

Aber auch grandiose architektonische Würfe wie das futuristische Kantinengebäude des Sanatoriums für Schriftsteller in Armenien von Gevorg Kochar / Mikhael Mazmanyan (1969) oder das leider nicht realisierte Druckhaus der Pravda, 1930 von Ed Lissitzki entworfen (der schlichtere Entwurf von Panteleimon Golosov erhielt damals den Zuschlag). Auch der dynamische, von Mikhail Posokhin geplante Pavillon der UdSSR für die Weltausstellung in Osaka 1970 und das Georgische Autobahn-Ministerium (1975) legen Zeugnis für die Kreativität russischer Architekten ab.
 

Kantinengebäude des Sanatoriums für Schriftsteller in Armenien von Gevorg Kochar / Mikhael Mazmanyan (1969)

Und es gab natürlich auch die tatsächlich ästhetische Seite des russischen Designs, das sich anders als im NS-Staat abseits des sowjetischen Ideals freier entwickeln konnte. Von „Kulturbolschewismus“ kann bei den Graphiken, Porzellanentwürfen, Skulpturen und Zeichnungen von Ivan Kliun, Ed Lissitzki, Nikolai Suetin (s.o.), Kasimir Malevich, Konstantin Melnikov und Alexander Rodchenko wahrlich keine Rede sein. Ihnen ist das ausführliche Kapitel über die 20er Jahre gewidmet.
Während ab 1945 im Westen ein frischer Wind wehte und der deutsche Staat sich neu erfand, blieben ja Stalin und seine kommunistischen Erfüllungsgehilfen bis 1953, danach die nahtlos folgende diktatorische rote Nomenklatura an der Macht. Trotzdem vollzog sich in den 50ern und 60ern, besonders im Bereich Innenarchitektur, Gebrauchs- und Möbeldesign eine sehr zivile, moderne und dem Zeitgefühl angepaßte, doch recht stark an westliche Vorbilder angelehnte Entwicklung, die wie in der DDR zu beobachten, immer mit einem gewissen Zeitverzug stattfand. Das läßt den Schluß zu, daß man sehr wohl stets den Blick auf den Klassenfeind gerichtet hielt und – Diktatur hin oder her – den Geschmack des Publikums beobachtete und ihm nachgab.
Schaut man sich im Buch Soviet Design die Jahre der „Goldenen Dekade“ der 60er Jahre an, begeistern den Design-Liebhaber die Formen, Farben und Werkstoffe von Sitzmöbeln, Stehlampen, Tischen und Bücherregalen, die sehr viel vom skandinavischen Design der 50er widerspiegeln, während die 70er ein Abbild der westlichen 60er Jahre zeigen. (Es ist wie ein Déja vu, als habe man DDR-Versandhauskataloge von Konsument, Centrum oder Versandhaus Leipzig vor sich.) Natürlich gab es bekanntermaßen diese besonderen Artikel im sozialistischen Lager nicht für jedermann, denn Planwirtschaft und Materialknappheit verhinderte eine Konsumflut wie die im Westen.
 
 
  Möbel 1960 - Heritage Gallery Collection

In umfangreicher Archiv-Recherche ist so ein Buch mit Literaturhinweisen, jedoch leider keinem Index, den man schmerzlich vermißt, entstanden, das man dennoch durchaus als Referenzwerk zum Thema des sowjetischen Designs ansehen kann. Es erscheint in gut verständlicher englischer Sprache, verzichtet auf akademische Abgehobenheit und ist nicht nur höchst informativ sondern auch unterhaltsam. Eine Empfehlung der Musenblätter.
 
Kristina Krasnyanskaya ist Kunsthistorikerin und Gründerin der Heritage International Art Gallery in Moskau. Sie war Kuratorin der Ausstellung Soviet Design: From Constructivism to Modernism, 1920s–1960s 2015 in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Shchusev Museum für Architektur in Moskau.
Alexander Semenov ist Experte für sowjetisches Design und Forschungs-Lehrbeauftragter an der Staatlichen Stieglitz Akademie für Kunst und Design in Sankt Petersburg.
 
 
Muster-Wohnzimmer 1972 aus dem Katalog der All-Unions-Ausstellung

Kristina Krasnyanskaya and Alexander Semenov – „Soviet Design - From Constructivism to Modernism. 1920-1980“
Edition in English language - With forewords by Elizaveta Likhacheva and Christina Lodder
© 2020 Scheidegger & Spiess, in cooperation with Heritage International Art Gallery, Moscow, 1st edition - 448 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 24.5 x 30 cm,
257 Farb- und 171 s/w-Illustrationen - Text in Englisch - ISBN 978-3-85881-846-1
99,- sFr | 77,- €
 
Weitere Informationen: www.scheidegger-spiess.ch